Zen in der Kunst, ein Bild zu beschreiben -Bildbeschreibungen als Weg zur Erleuchtung

Vor kurzem schrieb uns Henriette Schulz-Eigendorf aus Kyoto. Sie hatte ihrer Vermieterin Frau Noe, einer über 90-jährigen Sängerin, von unserem Projekt erzählt: 

“Noe San erinnert sich an einen Artikel über “Zen und die Künste” aus den 50er oder 60er Jahren, der eine Aufzählung von Künsten enthält, die nach Ansicht des Autors besonders geeignet sind, in ihrer Ausübung Zen zu praktizieren. Bogenschießen, Blumenstecken, Kalligraphie usw. usf. und tatsächlich – Bildbeschreibungen. 

Alle Künste hingegen, in denen es darum geht, immer wieder etwas Neues zu erfinden, sind, so wie ich es verstanden habe, dem Zen-Gedanken fremd. Um Zen und die Kunst zu verbinden, braucht es gerade die Wiederholung und die Nachahmung. So wie es z.B. auch in der “orthodoxen” chinesischen Malerei erstrebenswerter war, die Bildmotive des Kanons möglichst vollkommen zu wiederholen, als ein neues Motiv zu erfinden. Letzteres wurde als willkürlich empfunden. Erstrebenswert war die Meisterschaft in den Künsten, die sich nur durch Übung, d.h. durch Wiederholung erreichen lässt. Die Wiederholung der immer gleich ausgeführten Bewegungen ist schließlich das Medium der Selbstvergessenheit, in der Kunst und Meditation ineinander übergehen. Der Weg des Zen ist das Üben. Das Werk als dessen Ergebnis wird danach beurteilt, wie es den Weg widerspiegelt. Kriterien ihrer Beurteilung sind Meisterschaft in der Beherrschung der Mittel, Einfachheit und Leichtigkeit.   

Der Artikel erzählt die Geschichte eines blinden Meisters. Dieser forderte seinen Schüler auf, ihm die Bilder einer Mappe mit Tuschezeichnungen so zu beschreiben, dass er sie vor seinem geistigen Auge sehen konnte. Der junge Mann begann beflissen, das Bild eines berühmten Felsens im Japanischen Meer ausführlich und en detail zu beschreiben. Er begann rechts oben und arbeitete sich langsam zur Bildmitte vor. Doch schon bald unterbrach ihn das kräftige Schnarchen des Meisters, der neben ihm im Sitzen eingeschlafen war, bevor die Beschreibung den Felsen erreicht hatte. 

Am nächsten Morgen belehrte der Meister den Schüler, wie er das Bild beschreiben sollte: Sammle dich und dann betrachte das Bild. Versenke dich in das Bild, richte deine ganze Aufmerksamkeit darauf. Ihr Sehenden könnt ein Bild in einem einzigen Augenblick erfassen. Beginne damit, mir den Eindruck dieses Augenblicks wiederzugeben. Und sprich in einfachen Worten, die leicht zu erfassen sind. Deine Worte sollen wie das klarfließende Wasser sein, ganz natürlich, so dass ich nicht über ihren Sinn grübeln muss, reich, so dass vor meinem geistigen Auge ein lebendiges Bild wachgerufen wird, und kurz, damit ich nicht einschlafe. 

So wird gazō no setsumei, das Bildbeschreiben, zu einer Form der “Beschwichtigung aller Unruhe der Gedanken”, mit der wir uns wie bei der Meditation die Erleuchtung zwar nicht erarbeiten oder gar herbeizwingen können, mit der wir uns aber in einen Zustand versetzen, der das plötzliche Eintreten der Erleuchtung wahrscheinlicher macht. 

Am Ende beschrieb der Schüler seinem Meister die ganze Mappe in einer einzigen Nacht, ohne dass der Meister ermüdete. Im Gegenteil, er sah jedes einzelne der Blätter mit größter Lebendigkeit vor seinem geistigen Auge. Dem Schüler aber war es, als sehe er die Zeichnungen zum ersten Mal wahrhaftig. “Zuvor erkannte er Stückweise, jetzt aber erkannte er.” Sehen und Beschreiben wurden eins. Er tauchte in die Welt der Zeichnungen ein und tiefe Seelenruhe durchdrang ihn. 

Ist das nicht eine phantastische Perspektive für eure Arbeit?”

In der Tat. Faszinierend. 

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