Hier das Portfolio in Einzelseiten. Die Bild- bzw Seitenbeschreibungen findet ihr auch im Alt-Text. Komplett findet ihr es hier als PDF: 1. die bebilderte Version, und 2. die Version zum Lesen.

Das Portfolio der Blinden Fotografen in Berlin von 2024/2025.
Seite 6
Oben ein Bild, Gerald Pirner: “Portrait Sherwood Chen III”
Ein Mensch kauert, sozusagen in sich verknotet, auf dem Boden. Seine Hände und der linke Unterschenkel liegen auf dem Boden auf, sein rechter Fuß liegt in Richtung des Betrachters, mit den Zehen und der Fußsohle nach oben, auf dem linken Knie, so dass er auf den ersten Blick wie eine zweite rechte Hand wirkt, die man an dieser Stelle eher erwarten würde. Der Kopf des Menschen hängt nach unten, vom Gesicht ist kaum mehr als die linke Wange zu erkennen, die Hände liegen entspannt, mit den Handflächen nach oben. Die Haare scheinen voll und schwarz zu sein, sie sind lang und irgendwie zusammengebunden. Bekleidet ist er soweit sichtbar nur mit einem grauen Oberhemd.
Darunter ein Text:
“Für den Erblindeten bedeutet das Fehlen
eines visuellen Bildes die Freisetzung
seiner inneren Bilder, in die ihn alle sei-
ne Sinne von allen Seiten hineinstoßen.
Berührt der Erblindete Gegenstände, so
äußert sich diese Berührung in Gestalt von
Bildern, die in ihm entstehen, eben weil
sie von keinem visuellen Bild in Schach ge-
halten werden.
Meine Arbeiten verstehe ich als einen
Dialog zwischen blindem und visuellem
Sehen. Bilder haben für mich mit Spü-
ren und Berühren zu tun, sie sind etwas
Körperliches. Dies ist es, was ich blinden
Menschen zu vermitteln versuche. Ob sie
sich nicht mittels Fotografie auf den Weg
hin zu ihren verlorenen Bildern machen
wollen.
Über meine Konzeptionen von Bildern
nähere ich mich aber auch meinen eigenen
einst gesehenen Bildern wieder an. Ich
bin 1989 erblindet, habe also über dreißig
Jahre gesehen und inszeniere mir meinen
Fundus an Bildern Tag für Tag aufs Neue.
Ich habe Retinitis Pigmentosa, einen Zer-
fall der Netzhaut.
Ich konnte letztendlich meine Erblindung
beobachten und zusehen, wie ich erblin-
dete.
Ich habe mit jemandem gesprochen und
da tauchte dann plötzlich ein riesiger,
schwarzer Punkt auf und zerfraß die Hälfte
des Gesichts meines Gegenübers. Das war
ein bisschen skurril, denn mein Gegenüber
sprach immer weiter und wusste natürlich
nicht, was ich von ihm sehe – das war aber
ein Moment, den ich in meine Fotografien
eingebaut habe.
Ich arbeite sehr konzeptionell. Alle Bilder,
die ich mache, entstehen zunächst am
Schreibtisch. Ich überlege mir dort, was
ich fotografieren möchte und arbeite dazu
ein Konzept aus.
Ich habe dann eine sehr klare Vorstellung.
Ich sehe zum Beispiel: Okay, da muss
mehr Licht rein und da muss ein bisschen
Licht raus. Das Modell muss etwas anders
stehen usw. Dann macht die Assistentin
die Kamera auf. Ich hole aus dem Dunkeln
heraus, was ich sehen möchte und bringe
es ins Licht.
Gerald Pirner”