STATUS: SCHON BESCHRIEBEN
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Hallo zusammen,
hier ist Katrin. Ich bin blind und habe im frühjahr 2012 an einem inklusiven Fotoprojekt namens „Blicke wechseln – Sinne wandeln“ teilgenommen, wo ich auch auf eigene Faust geknipst habe. Wir haben Lomokameras, also manuelle Fotoapparate verwendet. Ich habe einfach mit schlichtem farbfilm auf gut Glück losgeschossen und teilweise sind auch ganz gute Sachen dabei rausgekommen. Ich habe zu einigen bildern schon Beschreibungen, die ich nach und nach mit posten werde. Zu diesem Bild gibt es aber noch keine. Es war eine der ersten aufgaben, einen Film in unserem Kiez vollzuknipsen. Dieses Foto ist von meinem balkon aus entstanden und zeigt die Häuser gegenüber. Ich wohne im Zentrum von berlin in Laufweite zur Siegessäule und der sTraße des 17. Juni. Die Zahl bezieht sich nur auf die Position des Bildes innerhalb vom Film, ist also ansonsten irrelevant.
Herzliche Grüße,
Katrin
Bildbeschreibung von Aljoscha:
Der Balkon geht zum Hinterhof hinaus. Aber es ist kein Hinterhof in einem Altbau, wo das Vorderhaus mit dem Quergebäude und dem Hinterhaus sich zu einem Viereck schließen und so einen Schacht entstehen lassen. Hier ist es anders: Die Häuser vor dem Balkon stammen wohl aus den 80er Jahren, sie sind also modern und jedes anders. Und sie schließen sich nicht zu einem einheitlichen Gebäude, es gibt also freie Räume zwischen ihnen.
Sie sind drei. Das Haus links stellt eine Balkonfront dar, alle Fenster und Balkontüren sind tief hinter die Balkonbrüstung aus grauem Beton eingesetzt, und sie alle, so erscheint es auf diesem Foto, sind voneinander mit durchgehenden Trennwänden aus rotem Ziegelstein getrennt. So trennt man sich von den Nachbarn und nicht vom anderen Raum in der eigenen Wohnung.
Das Haus rechts im Bild ist ebenso aus rotem Ziegelstein gebaut. Es scheint mit gewissem architektonischen Anspruch entworfen worden sein: sein Dach steigt von links, also aus der Mitte des Bildes, nach rechts, zum rechten Rand der Aufnahme, hin. Das bedeutet, dass dieses Haus an einer Seite weniger Stockwerke hat als an seinem anderen Ende. Selbst auf unserer Aufnahme wächst die Fensterfront um ein paar Fenster rechts zu. Ansonsten ist es schmucklos, die Fenster sind paarweise angelegt, sie sind klein und lassen eher an Küchen oder Abstellkammern denken.
Zwischen den beiden Häusern rechts und links und also direkt gegenüber vor dem Balkon, von dem unsere Aufnahme gemacht worden ist, steht ein Haus, das zwei oder drei Stockwerke kleiner ist als seine beiden Nachbarn. Es ist so klein, dass man noch die Häuser hinter ihm sieht. Es geht mit vier Balkonen und Fenstern zum Hinterhof hinaus. Von der linken Ecke her kommt zuerst ein Balkon, danach ein schmales Fenster, dann ein etwas breiterer Balkon und dann, nah an der rechten Ecke, wieder ein schmales Fenster. Das Haus steht frei, man sieht noch die längere Fensterfront an seiner linken Seite, mit der es seinen großen „Balkonnachbarn“ anschaut. Das Haus ist zwar klein, aber auf seinem Dach gibt es eine Terrassenwohnung: Sie ist vom Hausrand ein Stück zurückgesetzt und dieses frei gewordene Stück zu einem Durchgang mit einem leichten Geländer gemacht. Und die Terrassenwohnung hat man blau gestrichen, und das kleine Haus sonst, auch anders als seine Nachbarn, ist weiß.
Und es hat wahrscheinlich 4 Stockwerke. Die beiden Häuser rechts und links sind mindestens um zwei Stockwerke höher. Und der Balkon, von dem die Aufnahme gemacht wurde, liegt wahrscheinlich auch im vierten oder fünften Stockwerk, denn eine Besonderheit dieser Aufnahme ist, abgesehen vom Konzept der Fotografin, auch der Lage des Balkons zu verdanken: der Himmel. Es scheint ein Glücksfall zu sein, dass vom Himmel, der fast Zweidrittel dieser Aufnahme ausmacht, eine Bewegung festgehalten wurde: Es ist eine Drehung der Wolken, die das ganze Bild in Bewegung gegen den Uhrzeigersinn setzt oder es fliehend von links unten nach oben rechts erscheinen lässt. Und selbst die Gebäude im Hinterhof stehen wie geduckt da.
Kommentar von Katrin:
Hallo Aljoscha,
danke für die Beschreibung. Ich habe sie mir eben
durchgelesen. Sie ist klasse. Und wieder mal habe ich durch die
Beschreibung etwas entdeckt, was ich zufällig festgehalten habe und
von dem ich keine Ahnung hatte. Echt faszinierend! Es ist wie eine Brücke: Ich lerne immer mehr darüber, wie Sehen
funktioniert und kann mir dadurch selbst eine bessere Vorstellung
davon machen. Durch meine Nachfragen führe ich den sehenden
Beschreibern bestimmte Details genauer vor Augen. Zum Beispiel habe
ich noch nicht ganz verstanden, wie die Wolkenbewegung aussieht und
warum das ganze Bild dadurch bewegt aussieht. Das konnte ich mir durch
die beiläufige Erwähnung noch nicht so richtig vorstellen. Das scheint
für sehende Menschen völlig klar zu sein; ich aber habe davon keine
Ahnung, weil ich so etwas nie wahrnehmen konnte. Deshalb brauche ich
bei diesem Detail eine noch genauere Beschreibung, bitte!
Deine Katrin
Liebe Katrin, danke für deine netten Worte. Ich versuche jetzt zu erklären, was ich mit der Wolkenbewegung meinte. Natürlich kann man Bewegung auf einem Foto nicht sehen, denn ein Foto ist ja eine Momentaufnahme. Aber man kann eine Illusion schaffen (meistens zufällig), dass es dann so aussieht, als würde man eine Bewegung auf einem Bild sehen, Das bedeutet, man sieht sie zwar nicht, aber denkt sie leicht hinzu, als würde man sie erkennen und also sehen. Und diese Illusion hatte ich bei deinem Foto auch erlebt: es gibt sehr viel Himmel auf deinem Bild, und er ist mit grauen Wolken belegt, und sie ziehen sich durch das ganze Bild, und ich hatte das Gefühl, sie würden sich nach rechts oben „drehen“. Das hat sicherlich auch mit dem zu tun, wie man die Kamera hält. Bei deinem Foto hatte ich das Gefühl, die Häuser unten sind weniger wichtig, obwohl sie durch ihren Höhenunterschied auch zu einer Illusion der Bewegung beitragen. Aber im Mittelpunkt auf deinem Foto ist dieser Himmel. Und er ist irgendwie in Bewegung, also in einer dazu fantasierten Bewegung. Erkläre ich es nachvollziehbar?
Lieben Gruß. Aljoscha
Antwort von Katrin:
Hallo Aljoscha,
vielen Dank für deine Erklärung. Jetzt verstehe ich das wesentlich besser. Wow, was der Sehsinn so alles hinkriegt! Bin schwer beeindruckt. Dass es visuelle Täuschungen gibt, wusste ich ja, aber von so was hab ich noch nie gehört. Echt faszinierend. Kannst du mir ein bisschen mehr über so was erzählen.
Liebe Grüße,
Katrin