Bei mir selbst ist das Fotografieren seit meinem ersten Fotoprojekt
2012 eine Brücke zwischen Sehen und Nicht-sehen. Im Nachhinein wird
mir bewusst, dass die Dinge, die ich berühre, wie z.B. die Skulpturen
in der Villa Oppenheim oder im treptower Park die blüten der rosen,
auch irgendwie ein visuelles Bild in meinem Kopf erzeugen. Beim
Durchlesen der Beschreibungen kommen immer wieder Erinnerungen hoch
oder ich meine, mir von dem beschriebenen wirklich eine bildliche
Vorstellung machen zu können. Als Kind und Jugendliche hatte ich noch
einen Sehrest und konnte z.B. kontraste erkennen oder auch mit dem
betrachten von Fotos etwas anfangen. Deshalb war es zuerst eine
besonders schmerzliche Erkenntnis für mich, dass ich das, was ich
ablichte, weder vorher als Fotovorschau durch die Kameralinse, noch
nachher als Ergebnis sehen kann. Das hatte ich mir vor dem Projekt
nicht klar gemacht. Jetzt bin ich dankbar dafür, dass ich trotzdem
weitergemacht und mich mit diesem Schmerz auseinander gesetzt habe.
Dadurch habe ich Zugang zu einer Flut von visuellen erinnerungen
gefunden, die ich vergessen zu haben glaubte. So bin ich jetzt
beispielsweise in der Lage, mir von einem detailliert beschriebenen
Vogel, einem Boot oder Sonnenuntergang wirklich innerlich etwas
vorstellen und bewusst die mischung aus Freude und Schmerz aushalten
zu können. Zu meinem größten Erstaunen bemerkte ich in den letzten
monaten allmählich meinen geringen Sehrest wieder, der zwar wirklich
nur noch sehr gering ist, aber trotzdem vorhanden. Es beschränkt sich
auf eine Wahrnehmung von Hell und dunkel sowie – ich kann es nicht
anders ausdrücken – verschwommenen schlieren. Dies ist mir erst seit
einigen wenigen Jahren bewusst und seit einigen monaten fällt es mir
wieder verstärkt auf; so stark, dass es manchmal meine Konzentration
stört. Beispielsweise war es einmal beim Tango tanzen so stark, dass
ich aus dem Takt kam. Oder ich tanzte in einer anderen Situation beim
freien Improvisieren auf etwas helles zu und merkte schließlich, dass
es die weiße Wand war, obwohl ich eigentlich gedacht hatte, es müsse
ein brennender Scheinwerfer sein. Während ich durch die vielen
Diskussionen über visuelle Themen mehr über das Sehen lernte und mich
an vieles erinnerte sowie auf der anderen Seite Dinge vermitteln
konnte, wie ich sie wahrnehme, eine Verwischung der Grenze von Sehen
und Nichtsehen wahrzunehmen glaubte, habe ich selbst nicht mehr ganz
einzuordnen vermocht, wo in meiner eigenen Wahrnehmung die Grenze
zwischen meiner eigenen haptisch-euphaktorisch-auditiven und der
beschreibend-visuellen Fremdwahrnehmung verläuft.
Ich erlebe dies einerseits als Bereicherung, andererseits ist es
teilweise auch ein bisschen verwirrend. Ich empfinde es als lohnend,
diese Thematik weiter auszuloten.
Vor kurzem empfahl ich einer russischen freundin, die ebenfalls blind
ist, den Bildbeschreibungsblog. Ihre Eltern beschrieben ihr meine
Bilder – nur meine freundin kann Deutsch – und sagten ihr, wenn sie es
nicht gewusst hätten, hätten sie es nie gedacht, dass die Fotografin
blind ist. Eigentlich ist das ein großes Kompliment, aber da ich die
fotos mit hilfe von sehenden Menschen gemacht habe, fühle ich mich
damit nicht so ganz wohl. Da wird es sicher noch den einen oder
anderen Kommentar meinerseits brauchen, um das etwas zu relativieren.
Ich müsste mal die Fotos von meinem ersten projekt heraussuchen und
einzelnes einscannen, um es hier einstellen zu können; denn das sind
einerseits analoge und keine digitalen Fotos und andererseits habe ich
da noch mehr „zufällig“ und ohne sehende hilfe fotografiert. Auch das
ist eine interessante sache gewesen, aber ich glaube, heute würde ich
das nicht mehr so machen, weil es einerseits zu viele schlechte Fotos
erzeugt und ich mich andererseits auch an die sehende hilfe gewöhnt
habe, die es mir ermöglicht, präziser vorauszuwählen und leichter zu
vermitteln, was ich zeigen möchte. Trotzdem wähle ich natürlich aus,
was ich fotografieren möchte. Momentan habe ich ein Projekt ins Leben
gerufen, bei dem ich Hände in den unterschiedlichsten Kontexten
fotografiere. Einerseits weil ich denke, dass sie sonst nicht so sehr
Ziel von Fotografen/innen sind und andererseits, weil mir als blindem
Menschen von anderen Personen meist als allererstes die hände
entgegenkommen. Parallel dazu versuche ich, Dinge, die ich schön
finde, in diese hände zu legen, um sie im Bild festhalten zu können
und um diesen händen eine haptische wahrnehmung zu vermitteln, die
beide seiten als sehr sinnlich und bereichernd erleben. Beispielsweise
gibt es für mich kaum etwas schöneres, als einen kunstvoll geformten
Gegenstand, eine filigrane Blüte, das Kunstwerk der natur oder die
rissige Rinde eines dicken alten Baumstammes zu berühren. Oder eben
die hände von Menschen, die für mich mindestens so viel von einer
Persönlichkeit verraten, wie das gesicht, das ich wesentlich seltener
berühren darf. Ich frage nie selbst danach, da ich es als
Grenzüberschreitung empfinde; denn ein Gesicht ist etwas sehr
Persönliches, das man nicht einfach so berühren darf, wenn man eine
Person noch nicht besonders gut kennt. Jedenfalls empfinde ich so.
Wenn ich fragte, würde wohl kaum jemand direkt ablehnen, aber ich
finde, so etwas muss sich von selbst ergeben, wenn es nicht für beide
beteiligten unangenehm werden und sie in Verlegenheit bringen soll.
Wenn es jemand von selbst anbietet oder es sich in einer Freundschaft
oder einer sonstigen zusammenarbeit spontan ergibt, empfinde ich das
als unschätzbaren vertrauensbeweis. Beispielsweise ist es in meiner
neuen tanzgruppe ganz zwanglos in der Improvisation möglich, einander
zu berühren – auch die Gesichter. Hier ist es einfach etwas scheinbar
Selbstverständliches und ich habe schon von mehreren
Mittänzern/-tänzerinnen die Rückmeldung bekommen, dass sie das
ebenfalls als etwas besonderes, Schönes, Einmaliges empfinden. Jemand
sagte mir sogar, es habe früher schon Begegnungen mit blinden Menschen
gegeben und daher habe die Person gewusst, dass ich wohl eher selten
Gesichter berühre, habe mir aber die möglichkeit geben wollen, sie
über das gesicht kennenlernen zu können, weil das im Alltag das erste
sei, was man wahrnehme. für diese mittanzende person sei es aber auch
eine egoistische Handlung gewesen, weil sie sich selbst gern berühren
ließe. Einmal habe ich mich mit einem Freund über die Aussagen von
Händen unterhalten und er witzelte, ich sei also eine Handleserin.
Natürlich lese ich aus den händen keine zukunft – das zu behaupten
würde ich mir niemals anmaßen -, aber ich entnehme ihnen durch mein
intensiv geschultes Tastvermögen vermutlich mehr Informationen, als
das sehende Menschen tun würden. Was ich extrem schade finde, ist,
dass man euphaktorische Eindrücke weder adäquat beschreiben noch wie
einen visuellen eindruck im Foto festhalten und anderen zugänglich
machen kann. Dies ist aber auch von Seiten von sehenden Menschen oft
schwierig, also mir eine bestimmte visuelle Erfahrung zugänglich zu
machen, die ich nie selbst erlebt habe und die so abstrakt ist, dass
ich dazu keinen Zugang bekomme. Andererseits scheine ich auch durch
meine detaillierten Nachfragen das genauere hinsehen zu schulen. Oft
bekomme ich bei Beschreibungen die rückmeldung, jemand habe etwas nur
durch meine Nachfragen wahrgenommen, der visuelle Eindruck wäre ihr
entgangen, wenn sie das Bild betrachtet hätte, ohne es mir beschreiben
zu müssen. Beispielsweise konnte man beim Foto einer Straßenbahn durch
Türen und jFenster in die Bahn schauen und durch die Fenster auf der
anderen Seite menschen sehen, die auf der anderen seite der Tram und
Straße entlangliefen. Sie waren sehr verschwommen, aber doch deutlich
zu sehen. Das hätte meine Beschreiberin nach ihren eigenen Worten ohne
die Aufgabe der Beschreibung gar nicht wahrgenommen. Andererseits
sagte mir eine Dame, die sich seit einigen monaten regelmäßig mit mir
zum gemeinsamen Lesen von Texten und persönlichem Austausch trifft,
sie würde sich wieder mehr auf das Fühlen konzentrieren, seit sie mir
häufig begegne und immer mehr über meine Art der Wahrnehmung erfahre.
So ergänzen sich sehr unterschiedliche Wahrnehmungsweisen und fließen
ineinander über, verschmelzen zu einer ganzheitlichen Wahrnehmung von
sinnlichen Sinnes-Eindrücken. Ich empfinde diesen Prozess der
gegenseitigen Annäherung und des Perspektivwechsels als besonders
bereichernd bei dieser Arbeit, ob nun im seminar beim Fotografieren,
beim Tanzen oder bei anderen, ähnlichen projekten.
Pingback: Blogvorstellung: “Bilder für die Blinden” – “Photo Narrations for the Blind and Sighted” | Tina Franziska Paulick