STATUS: SCHON BESCHRIEBEN
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Ein Foto der blinden Malerin und Fotografin Silja Korn
Beschreibung von Ewa Maria Slaska:
Ein unscharfes Foto von zwei Männern in einer U-Bahn. Es ist ein offener U-Bahn-Wagen ohne Abteile, mit länglichen Bänken der Fensterwände entlang. Die Bänke sind mit schwarz-weiß gemustertem Plastikzeug bezogen. Die Männer sitzen mit den Rücken zum Fenster. Einer ganz am Rande, in der linken Ecke des Bildes, der andere um einen Platz von ihm entfernt, schon nah zu der rechten Seite des Bildes, aber nicht so nah. Da ist noch Platz für etwas, auch wen es da nicht ist. Der in der Ecke ist jünger und es sieht so aus, als ob er schläft. Der andere liest etwas auf der anderen, gegenüberliegenden oberen Seite des Wagons. Da sind meistens nur Werbebanner angebracht oder U-Bahn-Pläne. Kein Mensch betrachtet eine Werbung so interessiert, es ist also zu vermuten, dass der Mann versucht, seinen Ort auf der U-Bahnstrecke zu fixieren. Vielleicht ist er fremd in der Stadt oder nur selten benutzt er diese U-Bahn-Linie. Sein Hinterkopf widerspiegelt sich im Fenster hinter ihm. Der Mann ist ziemlich jung, so Mitte 30, und ist elegant angezogen. Hat einen schwarzen wollenen Mantel an, darunter lugt weißes Hemd aus mit weinrotem Schlips. Auf seinem Schoß liegt eine dünne unregelmäßig gewölbte schwarze lederne Aktentasche, in der er neben Papieren noch etwas Dickeres aufbewahrt, eine kleine Fotokamera vielleicht oder bloß einen Apfel.
Er ist blond und, ja, man kann sagen, helle. Seine Haare sind ein bisschen länger und ein bisschen unordentlich. Er ist also elegant aber nicht konservativ. Er sieht wie ein Mitarbeiter eines Literaturfestivals aus, der zu einem offiziellen Anlass nach Berlin kam. Er weiß wie er seine elegante Kleidung tragen soll, hat damit überhaupt keine Probleme, aber es ist nicht unbedingt, dass er sich jeden Tag so kleiden muss. „Muss“ ist überhaupt kein Wort für ihn. Er ist ein freier Geist. Und ein netter Mensch.
Der junge Mann, der neben ihn in der Ecke schläft, ist auch schwarz angezogen. Hat eine schwarze Jacke mit Stehkragen oder vielleicht auch mit einer Kapuze an (aber kein Punkoutfit) und trägt wahrscheinlich Bluejeans. In beiden Händen, schräg über seinen Schoß, hält er einen schwarzen ledernen Rücksack, der zum größten Teil am Sitz neben ihm ruht. Auch er ist sympathisch, aber an seinem Mund sieht man, dass er auch ein kleines bisschen stur sein kann.
Das wären die beiden Hauptfiguren im U-Bahn-Wagen. Sie sind nett, aber nicht sie haben mich veranlasst, das Foto zu beschreiben. Richtig faszinierend ist das, was man im dunklen Fenster hinter den beiden Männern sieht. Klar, es ist kein großes Geheimnis, es sind einfach Leute, die den beiden gegenüber auf der parallelen Bank sitzen. Aber doch, es haftet ihnen etwas geheimnisvollen an, weil wir sie nicht sehen, sondern nur deren verschwommene Widerspiegelung in der Scheibe. Es sind keine klar umrissene Menschen, wie die beiden Männer, es sind kleine vieldeutige Figuren. Da die Fensterscheibe ausholend gekratzt ist, verstärkt es noch dieses Gefühl, dass die Menschen in der Scheibe kleine Gespenster sind. Es sind sicher drei Personen, die sich da zwischen den beiden Männern widerspiegeln, und noch eine vielleicht ganz recht, die neben dem eleganten Mann sitzt, die aber nur als Hinterkopf zu sehen ist.
Die Figuren, die man deutlicher sieht, sind vielleicht Frauen, aber woran erkenne ich es? An den nicht eindeutigen aber doch anmutenden Gesten, an den um die Hälse gewundenen Schals? An Gefühl und Intuition? Eine ist etwas dick. Sie sitzt dem Eleganten gegenüber, stock gerade und gerade aus schauend, die andere, die in der Mitte, sieht zu der Dritten her. Sie ist im Drei-Viertel-Profil und ein Stückchen nach unten gebeugt. Die interessanteste ist die Dritte, die dem schlafenden jungen Mann gegenüber sitzt. Das ist sie! Die Fotografin, die sich selbst aufgefangen hat. Sie ist kaum zu sehen, aber sie ist da und hält ihre kleine Kamera vorm Gesicht.
Touché!
Vielen dank an alle Autoren, das Ihr Eure Zeit für uns zur Verfügung stellt. Ihr macht für uns die Welt der Sehenden sichtbar und rückt uns dadurch so mehr in die Gesellschaft! Ich wünsche mir, das Ihr lange uns erhalten bleibt!
merci, im Namen aller!