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Fotografieren – ein verloren geglaubtes Hobby von Susanne

Dieser Text wurde ursprünglich in der „Gegenwart“ – Magazin für blinde und sehbehinderte Menschen veröffentlicht.

Als ihr Sehvermögen nachließ, war Susanne Emmermann klar, dass sich das Fotografieren für sie erledigt hätte. Doch dann experimentierte sie mit dem Smartphone und besuchte einen Foto-Workshop für blinde und sehbehinderte Menschen. Heute hat sie ein Verständnis von Fotografie, das nicht nur mit dem Sehen, sondern mit allen Sinnen und mit viel Kommunikation zu tun hat.

verschwommene Anzeigetefel im Berliner HBF

OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Bildbeschreibung Anzeigetafel

Mit 14 Jahren bekam ich von meinem Vater eine Kamera geschenkt. Das war in den 1970er Jahren. Damals fotografierte man analog. Das heißt, man überlegte, bevor man den Auslöser betätigte. Ich fotografierte ziemlich viel und dokumentierte so mein Leben. Mein Vater meinte, ich hätte einen „Blick“ dafür.

Mit dem allmählichen Verlust meiner Sehkraft in Folge von Retinitis pigmentosa spürte ich immer mehr, dass ich mein Hobby würde aufgeben müssen. Da kreuzte ein Smartphone meinen Weg und ich versuchte erneut, „Augenblicke“ festzuhalten. Durch Tippen und Wischen auf dem Display bekam ich nützliche Hinweise: „zwei Gesichter zentriert“, „Bild unscharf“ usw. Das erleichterte mir die Sache. Ich versuchte, mit meinem Restsehen und diesen Anweisungen zu fotografieren. Und bekam positives Feedback.

Etwas später lernte ich den Fotografen Karsten Hein kennen, der gerade ein Fotoprojekt unter dem Titel „Schönheit der Blinden“ machte. Das Thema Blindheit ließ ihn nicht mehr los. Und so kam er vor vier Jahren auf die Idee, einen Foto-Workshop für blinde und sehbehinderte Menschen anzubieten, in Kooperation mit der Alice Salomon Hochschule Berlin und Studierenden des Studiengangs Soziale Arbeit.

Von meinen Versuchen mit dem Smartphone angespornt, wollte ich mir die Chance nicht entgehen lassen, mehr über Fotografie zu erfahren. Dass ich mich dabei ständig mit meiner Erblindung würde auseinandersetzen müssen, nahm ich in Kauf. Inzwischen habe ich an drei Workshops teilgenommen. Wir haben in Teams aus sehenden und nicht sehenden Teilnehmern zu unterschiedlichen Themen fotografiert, zum Beispiel „Hinterhöfe“, „Barrieren“, „Rot“.

Die assistierenden Studierenden haben die Aufgabe, mein Umfeld für mich sichtbar zu machen. Durch ihre Beschreibungen kann ich auf Motivsuche gehen und bestimmte Ausschnitte wie mit einem Fotoapparat heranzoomen. So kann ich Ideen für meine Bilder entwickeln. Auch beim eigentlichen Fotografieren helfen mir die Studierenden, indem sie beschreiben, was auf dem Display meiner Kamera zu sehen ist. Mein Handicap kann ich während unserer Fototouren vergessen.

Eine junge Frau bläst Seifenblasen

Bildbeschreibung Seifenblasen

Nach der gemeinsamen Fotoauswahl erstellen die Studierenden ausführliche Bildbeschreibungen, die in dem Blog www.bildbeschreibungen.wordpress.com zugänglich gemacht werden. Mir ist es wichtig, dass diese Beschreibungen auch eine emotionale Komponente haben. Oft bearbeiten wir die Texte gemeinsam. Dabei mache ich immer wieder die Erfahrung, dass wir unsere Sinne gegenseitig schärfen können.

die selbe junge Frau auf einer Schaukel sitzend

Bildbeschreibung Schaukel

Im letzten Semester haben wir uns mit Porträtfotografie befasst. Das ist nicht gerade meine favorisierte Richtung, weil ich das Modell nicht sehe. So kam mir die Idee, die junge Frau zunächst auf eine Reise in ihre Kindheit zu schicken. Ich fotografierte sie beim Spielen mit Seifenblasen und beim Schaukeln auf einem Spielplatz. Nachdem wir in einen Innenraum umgezogen waren, hatte ich ein Aha-Erlebnis. Ich saß in für mich optimalen Lichtverhältnissen unserem Modell gegenüber und konnte das Gesicht der Frau dank ihrer dunklen Haare und Augenbrauen auf dem Display meiner Kamera erkennen. Das eröffnete mir Möglichkeiten, die ich bisher nicht hatte. Diesmal fühlte ich die Situation nicht nur, ich sah sie auch. In der wunderschönen Fotoreihe „Die elf Gesichter einer Frau“ habe ich verschiedene Emotionen festgehalten.

Collage aus Gesichtern der jungen Frau auf Schwarzem Untergrund

11 Gesichter einer Frau

Inzwischen bin ich mit meiner ersten Foto-Assistentin eng befreundet. Wir fotografieren gerne in unserer gemeinsamen Freizeit. Für mich ist das Fotografieren ein neues Fenster in die Welt geworden. Ich versuche, mit meinen Bildern alle Sinne anzusprechen, ebenso wie ich sie erlebe, wenn ich fotografiere. So gesehen, habe ich mein Hobby nicht nur wiederfinden, sondern sogar erweitern können. Und ich will noch mehr. Die positive Resonanz auf meine Bilder hat mich ermutigt, mich auf das Feld der Kunstfotografie vorzuwagen.

Susanne Emmermann (57) lebt in Berlin und arbeitet im finanziellen Projektmanagement eines Verkehrsunternehmens.

 

 

 

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„Shot in the Dark“ – Ein Film mit blinden Fotografen

Pünktlich zur Filmpremiere des Dokumentarfilms „Shot in the Darkhaben wir mit Regisseur Frank Amann darüber gesprochen, wie aus einer spontanen Begegnung mit blinden und sehbehinderten Fotografen und der Faszination mit ihren Werken ein Film über die Werke dreier starker Persönlichkeiten entstand. Aus diesem Gespräch und selbst recherchierten Informationen entstand folgendes, fiktives Interview.

Der Film prämiert am 19. 1. in Berlin und am 21. 1. in Hamburg. Zwischen 13. und 24. Januar finden weitere Veranstaltungen und Workshops rund um den Film und die Protagonisten statt.  Untertitel und Audiodeskription sind über die App Greta & Starks verfügbar.

Wie bist du auf die Idee gekommen, einen Dokumentarfilm über blinde Fotografen zu drehen?

„Shot in the Dark“ ist meine erste Regiearbeit. ich bin eigentlich Kameramann. Vor ungefähr 6 Jahren habe ich in Spanien an einem Coming of Age Spielfilm über ein überbehütetes, blindes Mädchen gearbeitet. Der Film begleitete die Protagonistin auf der Suche nach ihrem Platz in einer von visuellen Eindrücken geprägten Teenagerwelt. Um ihre Sichtweise besser in Filmbildern darstellen zu können, habe ich mich gefragt, wie dieses Mädchen ihre Umwelt erlebt.

Ich recherchierte ein bisschen und stieß auf den blinden Fotografen Evgen Bavcar, dessen Bilder allerdings eher einer surrealistischen und symbolistischen Tradition verbunden sind und für unsere Filmrecherche deshalb nur bedingt geeignet waren. Dann stieß ich auf den Fotokatalog der Wanderausstellung „Sight Unseen“, die ich später auch live besuchte. Einige dieser Bilder blieben mir im Gedächtnis und als ich für ein ganz anderes Projekt in den USA war, beschloss ich spontan zwei der in „Sight Unseen“ vertretenen Fotografen Bruce Hall und Pete Eckert anzurufen, ob sie sich mit mir treffen würden. Damals hatte ich noch keine konkrete Filmidee. Ich war neugierig und wollte die Fotografen hinter den Bildern kennen lernen. Aus einer kurzen Unterhaltung wurden mehrere Stunden und wir entdeckten, dass wir viele Ansichten über Kunst und Fotografie teilten. Von der Idee zum fertigen Film über Pete Eckert, Bruce Hall und Sonia Soberats war es allerdings ein langer Weg.

Was war dir bei der Verfilmung deiner Idee wichtig?

Ich wollte keinen Film über sondern mit blinden Fotografen machen. Ich habe den HBO Kurzfilm „Dark Light The Art of Blind Photographers“ gesehen, in dem Bruce und Pete auch vorkommen, aber der hat versucht analytisch und didaktisch zu erklären wie blinde Fotografen arbeiten. Sehende Experten wurden gefragt, wie das funktioniert und das Ganze wirkte wie Forscher, die einen Ameisenhaufen inspizieren.

Mein Film ist eher visuell und beobachtend und begleitet die Protagonisten bei der Arbeit und lässt sie selbst und ihre Familien und Freunde zu Wort kommen. Der Zuschauer soll sich selbst anhand des Gesehenen und Gehörten eine Meinung bilden ohne zu sehr von Erklärungen und Kommentaren meinerseits gelenkt zu werden.

Bruce Hall

Bruce zum Beispiel fotografiert hauptsächlich unter Wasser und seine beiden autistischen Zwillingssöhne, über die er gemeinsam mit seiner Frau das Buch „Immersed: Our Experience with Autism“ veröffentlicht hat. Da er die Gesichtsausdrücke seiner Söhne schwer sehen kann, begegnet er ihnen in vergrößerten Bildern auf eine neue Art. Die hauptsächlich nonverbale Kommunikation mit seinen Kindern ist wichtig, aber nicht Mittelpunkt des Filmabschnitts über Bruce. Was er sieht, setzt er sich seit frühster Kindheit mit Vergrößerungsgeräten und heutzutage mit Bildschirmen zusammen. Bruce sagt von sich selbst, er sieht zweimal: zuerst einen Eindruck oder Umriss beim Aufnehmen und später auf dem fertigen Bild mehr Einzelheiten.

Außerdem wollte ich, dass die Protagonisten den fertigen Film auch genießen können. Daher die Audiodeskription über Greta. Ich habe auch viel mit Klangeffekten und Tonschichten gearbeitet. In Kinovorführungen wird sich der Sound räumlich auf verschiedene Boxen verteilen. Da sich die Töne im Raum bewegen, entsteht ein räumlicher Klangeffekt.

Was hat dich an den Arbeiten dieser blinden Fotografen fasziniert und was unterscheidet sie von den Werken sehender Fotografen?

Heutzutage sind wir einer tagtäglichen Bilderflut ausgesetzt. Damit ein Bild unsere Aufmerksamkeit für mehr als ein paar Sekunden hält und uns anschließend im Gedächtnis bleibt, muss es etwas Besonderes zeigen oder eine ungewöhnliche Perspektive oder Technik haben. Vielleicht haben blinde Fotografen in dieser Hinsicht sogar einen Vorteil, da ihnen oft der Vergleich zu anderen Bildern fehlt. Wenn man gar nichts oder wenig sieht, verliert man sich weniger im Detail, wodurch Hell –Dunkelkontraste und abstrakte Formen besser zur Geltung kommen. Ich selbst kneife auch manchmal die Augen zusammen um das große Ganze besser zu sehen. Das bedeutet aber nicht, dass die Bilder von Blinden alle ähnlich sind, im Gegenteil Motive und Techniken sind so unterschiedlich wie ihre Fotografen und deren Sehreste und Interessen.

Arbeiten blinde Fotografen anders als Sehende?

Jeder Künstler, ob sehend oder nicht hat, seine eigene Arbeitsweise. Die meisten blinden Fotografen arbeiten konzeptionell. Während sehende oft zufällig etwas Interessantes sehen und es fotografieren, entwickeln blinde die Bildkomposition zuerst vor ihrem inneren Auge und versuchen sie dann umzusetzen.

Pete Eckert

Vor seiner allmählichen Erblindung durch eine Erbkrankheit war Pete Schreiner und Kunststudent, zuletzt studierte er Architektur, und im Prozess seiner Erblindung Wirtschaft. Er kam erst später von Skulpturen über Holzschnitte zur Fotografie. Er arbeitet auch heute noch mit einer analogen Mittelformatkamera, da diese ihm mehr Unabhängigkeit ermöglicht. Die Mechanik dieser alten Kameras ist ertastbar und Markierungspunkte am Objektiv und ein Lichtmesser ohne Glasverkleidung ermöglichen das selbstständige Einstellen. Abgesehen von der Auswahl für großformatige Abzüge verzichtet Pete auf sehende Hilfe, da für ihn nur ein selbstständig entworfenes und fotografiertes Bild ein authentisches Bild aus der Welt eines Blinden ist. Trotzdem ist ihm das Feedback der Betrachter wichtig, da kein Künstler auf Dauer ohne positive Rückmeldung motiviert bleibt.

Sonia Soberats

Als junge Einwanderermutter verlor Sonia kurz nacheinander ihre beiden Kinder und ihr Augenlicht. Obwohl sie früher nicht fotografierte, fand sie später neue Lebenserfüllung im Light Painting, einer Fotografietechnik bei der in völliger Dunkelheit nur das Bildmotiv mit verschiedenen Lichtquellen angestrahlt wird, wodurch es im fertigen Bild nahezu geisterhaft zur Geltung kommt. Sonia gewinnt ihre Ideen aus Erlebnissen, Gerüchen und fühlbaren Texturen. Ihre Modelle sind oft Familienmitglieder und Freunde mit denen sie sich während des Fotoshootings unterhält. Bei Umsetzung und Auswahl hilft ihr ein sehender Assistent. Die Belichtungsdauer beträgt mehrere Minuten. Die Ideen sind ihre, für sie ist die Assistenz nur technische Hilfe.

Light Painting Workshops für Blinde und Sehende

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe rund um den Film finden in Berlin Künstler Gespräche und am 14. und 15. Januar ein Light Painting workshop für blinde und sehende Teilnehmer statt. Geleitet wird der Workshop von Sonia Soberats und Mila Teshaieva, einer sehenden Fotografin, die ähnliche Techniken benutzt.

Kontakt: kontakt@shotinthedark-film.com

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Warum eigentlich 100 Meisterwerke?

Regelmäßigen Lesenden unseres Blogs ist sicher schon aufgefallen, dass wir im letzten Jahr angefangen haben 100 Meisterwerke zu beschreiben. Dank der fleißigen Studierenden der Alice-Salomon Hochschule Berlin, die sich in einem Seminar ausführlicher mit Bildbeschreibungen beschäftigen, und unserem Korrekturteam findet ihr inzwischen fast 60 Beschreibungen in der Kategorie 100 Meisterwerke. Diese bunt gemischte Sammlung enthält berühmte Gemälde, Grafiken und Fotografien in den verschiedensten Stilen und aus den unterschiedlichsten Kunstepochen. Die Reihenfolge ist willkürlich, da wir keine Hitliste erstellen wollen, die Verschiedenheit der Werke macht einen Vergleich unmöglich. Erstellt wurde die Auswahl gemeinsam von sehenden und blinden Künstlern, Kunstkritikern, Kunsthistorikern und interessierten Laien. 100 ist nur ein Anfangsziel und wir freuen uns über weitere Vorschläge.

Entstanden ist das Projekt aus einer Seminarrehe darüber, was eigentlich ein „gutes Bild“ ausmacht und wodurch ein Werk berühmt wird. Damit ein Werk für Sehende aus der täglichen Bilderflut herausstricht, muss es entweder aus einem wichtigen historischen oder kulturellen Kontext heraus entstanden sein oder die Aufmerksamkeit des Betrachtenden sofort auf sich ziehen. Letzteres kann zum Beispiel durch ein seltenes oder emotional berührendes Motiv, durch interessante Techniken oder durch ungewohnte Blickwinkel erreicht werden. Um solche Bilder handelt es sich bei unseren 100 Meisterwerken, von denen viele ikonisch sind und sozusagen zum visuellen Allgemeinwissen gehören. Auch ohne Wissen über Künstler und Entstehungsgeschichte, haben viele Betrachtende das Gefühl ein Foto oder Gemälde irgendwo schon einmal gesehen zu haben.

Auch wenn es inzwischen häufiger blindengerechte Museumsführungen und Audioguides gibt, fehlt vielen blinden und sehbehinderten Menschen dieses Allgemeinwissen der visuellen Kunst. Vielleicht macht der mangelnde Vergleich die Werke vieler blinder Künstler auch so einzigartig, aber wir wollen mit unseren 100 Meisterwerken versuchen diesen Nachteil auszugleichen und hoffentlich neues Interesse für bildende Kunst und Kunstgeschichte wecken.

Wir freuen uns wie immer über Kommentare, Rückfragen und vorschläge für weitere Meisterwerke

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Ergebnisse einer Studie zu Alternativtexten im Internet

Im Rahmen der Recherche für ihre Masterarbeit an der TU Dortmund besuchte Sarah Kitza letztes Jahr einige unserer Workshops. Sie half uns nicht nur beim fotografieren, auswählen und beschreiben der Bilder, sondern befragte auch unsere blinden und sehbehinderten Seminarteilnehmenden sowie die Lesenden unseres Blogs zum Thema Alternativtexte im Internet.

Danke an alle über 200 Teilnehmenden an der Online-Umfrage und herzlichen Glückwunsch an Sarah zur Veröffentlichung der Masterarbeit. Wir hoffen, dass möglichst viele Webseitenprogrammierer und Journalisten, aber auch Hobby-Blogger die Studie lesen und versuchen die Empfehlungen umzusetzen. Nur so können das Internet and visuelle Darstellungen im Allgemeinen barriereärmer werden.

Hier der Link zu einer Einleitung zur Studie von Jan Hellbusch mit dem Direktlink zum kompletten Text der Masterarbeit.

 

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Workshops zur Geschichte der Fotografie: 1 Was ist ein gutes Bild?

In unserer Workshop Serie über Fotogeschichte und Ästhetik laden wir Fotografierende und Kunsthistoriker_Innen ein uns anhand von Beispielen zu erzählen was für sie ein „gutes“ Foto ausmacht

Letzten Samstag hatten wir Petra Schröck von der Brotfabrik Galerie in Berlin zu gast und im Gespräch mit ihr, Studierenden der Alice Salomon Hochschule und unseren blinden Fotografierenden tauschten wir uns über von Petra ausgewählte berühmte Fotografien und Methoden der Bildbeschreibung für blinde und sehbehinderte Kunstinteressenten aus.

Was macht ein gutes Bild aus?

Subjektive Entscheidung

Ob ein Bild „gut“ ist hängt hauptsächlich vom subjektiven Empfinden des einzelnen Betrachtenden ab. Experten und Laien gleichermaßen sagen, sie erkennen ein „gutes“ Bild, wenn sie es sehen. Das mag arrogant klingen, aber es handelt sich letztendlich um eine individuelle Ansicht.

Trotzdem gibt es weltberühmte Werke, die viele Menschen zumindest flüchtig kennen. Ein „gutes“ Bild hat Wiedererkennungswert und löst im Betrachtenden Gefühle oder Erinnerungen aus. Es ist nicht unbedingt ästhetisch „schön“; man denke zum Beispiel an ikonische Bilder von Konzentrationslagern, Katastrophengebieten oder Kriegsopfern in denen weder die Landschaften noch die Menschen dem allgemeingültigen Schönheitsideal entsprechen. Diese Bilder können in Menschen Schock, Ärger und Trauer auslösen.

Widererkennungswert

Angesichts der gegenwärtigen Bilderflut im Allgemeinen sind aber weder Schockierende noch ästhetisch ansprechende visuelle Eindrücke genug, um dauerhaft im Gedächtnis des Betrachtenden zu bleiben. Als Bilder noch gemalt wurden und vor dem Zeitalter der Digitalen Fotografie, war ein Bild schon aufgrund seiner Seltenheit und der aufwändigeren Herstellung bemerkenswert.  Im Zeitalter von Flicker und Instagram scrollen wir gedankenverloren durch Bilder und bleiben selten länger als den Bruchteil einer Sekunde bei einem Motiv.

Assoziation mit Erinnerungen oder Gefühlen

Sonnenuntergänge sind ein typisches Beispiel für etwas ästhetisch Erhabenes, das in den meisten Fällen den Betrachtenden trotzdem wenig berührt. Letztendlich gleicht ein Sonnenuntergang ob fotografiert oder gemalt dem anderen. Natürlich ist ein blutroter, lila oder orangefarbener Himmel oberflächlich „schön“, aber abgesehen vom Fotogrefierenden der oder die besondere Erinnerungen an den Ort oder die Zeit der Entstehung des Fotos hat, ist er beliebig austauschbar. Naturschauspiel wie Sonnenuntergänge sind schwer abbildbar weil sie nicht nur auf Visuellen Eindrücken beruhen. Luft, Stimmung und Geräusche können sich verändern. Ein Bild das diese anderen Sinneswahrnehmungen darstellt wäre interessant. Hier liegen potentiell die Stärken von blinden und sehbehinderten Fotografierenden, die für andere Wahrnehmungen als offensichtliche visuelle Ersteindrücke besser sensibilisiert sind. 

Das heißt nicht, dass man keine Sonnenuntergänge fotografieren sollte, immerhin wurden sie zum Klischee, weil sie zu den am häufigsten fotografierten Motiven gehören, aber ein wirklich „gutes“ Foto löst auch Empfindungen in anderen Personen aus. Es zeigt einen Moment an einem Ort wie er wirklich gewesen ist oder von der Künstlerin empfunden wurde. Richtig präsentiert zum Beispiel im Großformat in einem ansonsten leeren Raum kann ein Sonnenuntergang sehr wirkungsvoll sein.

Kunstwerk, Fotografierender und Betrachtender

Ein Foto zeigt nicht nur das abgebildete Motiv sondern verrät auch direkt oder indirekt etwas über den Künstler. In erster Linie muss dem oder der Fotografierenden selbst das Bild gefallen und wenn er oder sie dann noch mehr Menschen findet, denen es gefällt, dann ist es ein Erfolg. Manche Künstler wollen mit ihren Bildern den Betrachtenden ihre eigenen Emotionen und Erinnerungen vermitteln, andere wollen „Realität“ und „Wirklichkeit“ abbilden oder die Betrachtenden verwirren oder zum Nachdenken anregen.

Letztendlich ist jedoch die Absicht der Künstlerin für Betrachtende oft wenig relevant. Das Kunstwerk entwickelt ein „Eigenleben“ unabhängig von Person und Intention des “Schaffenden“. Biografische und zeitgeschichtliche Zusatzinformationen eröffnen oft Zugänge zu weiteren Interpretationsmöglichkeiten, aber sie sind für den Widererkennungswert und das Gefallen oder Nicht-Gefallen eines Werkes ehr wenig entscheidend. Das gleiche Bild kann verschiedene, manchmal sogar gegensätzliche Reaktionen in Betrachtenden auslösen.

Wie werden Kunstwerke berühmt?

Objektivere Kriterien

Trotz all dieser subjektiven Auswahlkriterien git es auch objektivere Merkmale, die ein „gutes“ oder zumindest berühmtes Werk ausmachen. Experten beurteilen Komposition und Linienführung, Licht, Farben, Atmosphäre und technische Umsetzung. Für Petra persönlich ist die technisch perfekte Umsetzung eher weniger vorrangig. Man braucht keine teure Ausrüstung um gute Bilder zu machen. Wichtig ist ein Auge oder Gefühl für den Moment zu haben und ihn festzuhalten.

Technisch perfekt vs. Schnappschuss

Technisch perfekte Bilder können kalt und leer wirken, während zufällige Schnappschüsse einzigartige Gesten und Momente festhalten können. Details, die unbeabsichtigt ins Bild geraten sind, können ein Foto gerade besonders machen. Kein Moment ist perfekt und daher muss die Abbildung auch nicht perfekt sein. Die Freude zufällig einen Vogel im Flug auf einem Bild festzuhalten kann einen Schnappschuss einzigartig machen. Einige Fotografierende warten lange auf den richtigen Moment, während andere schaffen gezielt eine Umgebung in der sie dann ein Bild suchen.

Besonders in der Kunstfotografie ist das faszinierende nicht das vom Fotografierenden beabsichtigte Thema des Bildes, sondern Details die auf den ersten Blick nicht zu sehen sind. Auf der anderen Seite können Bilder in denen zu viel passiert, die Wahrnehmung zu sehr überfluten.  Es kann nicht schaden, die allgemeinen Regeln des „ästhetischen“ Fotografierens zu kennen, aber man muss sie nicht immer befolgen.

Zufall und Kanonisierung in der Kunstszene

Das ein Bild ikonische Berühmtheit erlangt ist oft schlicht und einfach Zufall. Ein anerkannter Kunstkritiker entdeckt eine Künstlerin und vermarktet und fördert sie entsprechend. Ein Foto geht in den Medien um die Welt, weil es in einem historischen Moment an einem relevanten Ort geschossen wurde und die Stimmung der Menschen widerspiegelt. Oder eine Style wird als neu und innovativ angesehen. Bilder die schon berühmt sind werden von mehr Menschen gesehen und als Norm des „Berühmt-Seins“ akzeptiert. Menschen hinterfragen unter Umständen gar nicht so genau, ob sie das Bild „gut“ findet. Die „Fachleute“ haben es ausgewählt und ab sofort gehört es zur Allgemeinbildung. Die Berühmtheit wird durch die Medien und Kunstgeschichtsschreibenden weiter gefestigt.

Wie mache ich ein „gutes“ Foto?

Da es keine eindeutige Definition eines „guten“ Fotos gibt, kann es auch keine Schritt für Schritt Anleitung geben wie man es macht. Einige „Klassiker“ der Fotografie zu kennen ist gut für die Allgemeinbildung und kann auch bei der persönlichen Weiterentwicklung als Fotografierender helfen. Schlichtes Nachstellen ist natürlich nicht besonders originell aber man kann sich an Beispielen orientieren, mit ihnen arbeiten und sie verändern.

Hier eine kurze Zusammenfassung von Merkmalen, die ein „gelungenes“ Foto ausmachen können. Berühmte Bilder erfüllen oft mehrere dieser Kriterien. Die List ist aber keinesfalls vollständig.

  • Es gefällt dem Fotografierenden.
  • Es berührt andere Menschen emotional und bleibt in ihrer Erinnerung.
  • Es stellt einen historischen Ort, ein wichtiges Ereignis oder eine Stimmung dar.
  • Es wird von der Öffentlichkeit als ästhetisch ansprechend und originell empfunden.
  • Es vermittelt mehr als nur eine rein visuelles Abbild.
  • Es ist ein Schnappschuss einer interessanten Zufallsszene.
  • Es gefällt Kritikern und Kunsthistorikern und wird dementsprechend vermarktet.
  • Es gibt eine Hintergrundgeschichte zum Foto selbst, dem motiv oder über den Künstler.
  • Technik und Stil sind innovativ oder kontrovers.
  • Technische Umsetzung, Komposition, Linien –und Farbführung, Licht und Atmosphäre sind wirkungsvoll.
  • Es wird wirkungsvoll inszeniert zum Beispiel in einer Ausstellung.

Im zweiten Teil zum Seminar wird es mehr um die Live-Bildbeschriebung der von Petra mitgebrachten „Meisterwerke“ gehen.

 

 

 

 

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Richtlinien für Bildbeschreibungen II

Aus gegebenem Anlass hier noch einmal der Vorschlag der blinden Kunsthistorikerin Anja Winter für ein Schema für Bildbeschreibungen :

Bildbeschreibung für Blinde

I. Fakten

1. Maler

2. Titel & Genre

3. Format & Maße

4. Technik

5. Entstehungszeit

II. Beschreibung

1. Aufbau (Vorder-, Mittel-, Hintergrund)

2. Hauptmotiv (evtl. auch nur Teil), das sofort ins Auge springt

3. Farben

III. Eindruck, Stimmung

möglichst genau wiedergeben, aber Achtung: keine Interpretation!

IV. Hintergrund 

(soweit zum Verständnis erforderlich!)

1. biografische Daten des Malers (und ggbfs. Auftraggebers)

2. Stil & Epoche

3. kunsthistorische Besonderheiten

4. historischer, religiöser Hintergrund 

© tastkunst 06.2012

Vergleicht es bitte mit den Vorschlägen des blinden Kunsthistorikers Erich Schmid.

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