An diesem schönen, sommerlich warmen Maitag haben wir unseren ersten Workshop des zweiten Fotoseminars für blinde und sehbehinderte Fotografinnen abgehalten. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde bildeten wir kleine Gruppen von jeweils einer Fotografin und drei oder vier Studierenden der ASH. Meine Gruppe setzte sich an einen Tisch im Hof und da das Thema unseres Seminars Portraits lautet, haben wir nach einer weiteren kleinen Vorstellungsrunde beschlossen, dass ich erst mal die Gesichter fotografieren werde.
Wir haben es so gemacht, dass jeweils eine Studentin/ein Student sich als Modell zur Verfügung gestellt hat und eine/r andere/r sie oder ihn beschrieben und mir beim Fotografieren geholfen hat. so konnte ich schon einmal einen etwas genaueren Eindruck von den einzelnen „Models“ bekommen.
Danach wurde mir die Umgebung ein bisschen beschrieben und uns fiel vor allem die Hälfte eines gestreiften Autoreifens auf, der vor einem Baum auf dem Boden lag. Die einzelnen Gruppenmitglieder haben sich auf den Reifen gesetzt und ich habe sie dort erneut portraitiert. Auch den Baum habe ich noch mal einzeln fotografiert, denn ich liebe Bäume und die Beschreibung von den verschiedenen Farbschattierungen fand ich sehr interessant. Besonders überrascht hat es mich, als jemand meinte, die Blätter seien gelb und ich erwiderte, also seien sie sicher schon etwas welk. Mir wurde widersprochen und gesagt, es sei ein sehr kräftiges, schönes Gelb, die Blätter machten einen gesunden Eindruck.
Dabei ist mir aufgefallen, wie stark bestimmte Vorstellungen in meinem Kopf mit Farben in bestimmten Zusammenhängen verkoppelt sind, weil mir nie jemand etwas Gegenteiliges beschrieben hat. Im Gespräch kamen wir auch darauf, dass ich mir keine visuelle Vorstellung von Personen bzw. deren Gesichtern machen kann, weil ich früher Gesichter nie gesehen habe, obwohl ich Menschen an ihrer Statur unterscheiden konnte, besonders, wenn sie Kleidung trugen, die einen starken Kontrast zum jeweiligen Hintergrund darstellten. Ein Teilnehmer machte den Vorschlag, ich könnte doch die einzelnen Gesichter einmal abtasten.
Das haben wir dann auch gemacht und ich hatte den Eindruck, dass es für alle Beteiligten sehr interessant war. Für mich war es etwas ganz Besonderes, denn ich werde nur selten gefragt, ob ich ein Gesicht abtasten möchte. Da das Gesicht etwas sehr persönliches und irgendwie auch Intimes ist, frage ich normalerweise nicht von selbst danach. Denn ich habe das Gefühl, dass es für jemanden, den ich nicht gut kenne, eine Grenzüberschreitung darstellt. Die Leute würden wohl kaum ablehnen, aber es schüfe eine Nähe, die manchen vielleicht unangenehm wäre. Bei Freunden oder Menschen, die mir nahe stehen, ergibt es sich irgendwann ganz von selbst, dass wir uns zwanglos berühren und dabei ertaste ich natürlich auch die Gesichter. Aber dass mir Menschen das gezielt von sich aus anbieten, die mich kaum kennen, finde ich ungewöhnlich und das hat mich sehr gefreut. Vor allem habe ich normalerweise ja nicht gleich eine ganze Gruppe von Leuten vor mir, die sich bereit erklären, sich auf diese weise berühren zu lassen.
Wir haben es wieder reihum gemacht, wobei ich diesmal meine Kamera an die Gruppe übergeben habe, denn ich kann ja schlecht gleichzeitig Fotos machen und tasten; in diesem Fall hätte man das Erlebnis auch nicht für andere sichtbar abbilden können. Im Gespräch danach ging es unter anderem auch darum, dass ich die Gesichter sehr behutsam berührt habe, also sensibler bin als andere Leute. Ich denke, das liegt daran, dass ich eben einerseits einen Ersatz für mein kaum noch vorhandenes Augenlicht gebraucht habe, wodurch sich der Tastsinn nach und nach von selbst stärker herausgebildet hat oder einen höheren Stellenwert für mich bekommen musste. Andererseits könnte ein Grund dafür auch sein, dass das Gesicht eine der schmerzempfindlichsten Regionen des Körpers ist und ich den anderen durch eine sanfte Berührung ein angenehmes Gefühl bei der Erfahrung verschaffen sowie ihnen auch mit Respekt begegnen wollte.
Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich relativ viel mit Pflanzen arbeite und dabei gelernt habe, Lebewesen vorsichtig zu berühren. Bei Pflanzen bricht man schnell einen Zweig ab oder zerdrückt eine Blüte, wenn man nicht äußerst behutsam vorgeht. Da ich auch ansonsten viel mit den Händen arbeite, habe ich mir denke ich mir, ohne es wirklich bewusst wahrgenommen zu haben, eine starke Sensibilisierung und Bedachtsamkeit erarbeitet. Im übertragenen sinne trampele ich diesbezüglich eher ungern und mag ganz leise, sachte Schritte am liebsten.
Wenn man irgendein Kunstwerk wie eine kleine Statue oder eine filigrane Bastelei betastet, ist es auch sinnvoll, sehr langsam und vorsichtig zu Werke zu gehen, da ja auch noch andere Menschen dieses Werk bewundern oder erfühlen wollen. Dasselbe gilt für Braillebücher: Wenn man zu stark drückt, nutzen sich die Punkte zu schnell ab und andere können sie später schlechter lesen. Wenn man schon bei einem Gegenstand vorsichtig sein muss, ist man es natürlich auch und vor allem bei Lebewesen. Außerdem ist es auch für die eigenen Hände angenehmer, wenn man sanft tastet. Ich finde, man bekommt dabei mehr Details mit, als wenn man fahrig, hastig oder mit viel Druck ans Tasten heran geht.
Wenn ich selbst berührt werde, mag ich sanfte Annäherung auch lieber als kräftiges Grapschen. Daher gehe ich davon aus, dass dies für andere genauso angenehm ist und gehe entsprechend mit ihnen um. Aber der Tastsinn sitzt nicht nur in den Händen. Darin ist er vielleicht am stärksten ausgeprägt. Aber auch Arme, Schultern, Rücken, Beine und Füße haben ihr jeweils spezifisches Tastempfinden.
An diesem Tag war es zum Beispiel recht windig und natürlich spüre ich den Wind außer im Gesicht auch in meinem Haar, das er wehen lässt, an meinen Armen, an denen er entlang streicht und in meinem Nacken. Gleiches gilt für die Sonne, die warm auf mich herunter geschienen hat. Sie mag ich am liebsten im Rücken. Deshalb war es besonders schön für mich, dass ich beim Fotografieren fast die ganze Zeit mit dem Rücken zu ihr sitzen konnte. Auf dem Weg in den hof habe ich die unterschiedliche Bodenstruktur nicht nur mit meinem Stock, also über die Hand, sondern auch durch die Sohlen meiner Schuhe wahrgenommen. Oder wenn mich jemand an der Schulter, am knie oder im Rücken berührt, spüre ich das natürlich auch. Das Gesicht hat eine besonders feine Tastsensorik, wie wir bei unserem Tastexperiment festgestellt haben.
Ich fand es ganz besonders schön, dass zu den Stimmen nun auch Gesichter für mich erfahrbar werden konnten. Auch die Art, das Haar zu tragen, sich zu kleiden oder dazusitzen, war genauso individuell wie die Gesichter. Das Gespräch, die Fragen und die Offenheit der einzelnen Gruppenmitglieder, die Beschreibungen beim Fotografieren und die Hinweise, die ich zum Halten der Kamera bekommen habe, fand ich richtig gut.
Beispielsweise habe ich an diesem Nachmittag gemerkt, dass ich die Kamera bei Portraits meistens erst mal zu hoch halte, obwohl ich versucht habe, mich taktil an der jeweiligen Person zu orientieren; und dass es auch für sehende Menschen schwierig sein kann, den richtigen Abstand oder die passende Perspektive für ein Portraitfoto herauszufinden. Außerdem musste ich daran erinnert werden, dass ein Foto mit Gegenlicht zu dunkel werden könnte und dass es daher besser ist, wenn der Portraitierte in die Sonne schaut. Das ist natürlich für die Person, von der das Foto gemacht werden soll, eher unangenehm und in manchen Fällen haben wir damit experimentiert, wie es aussieht, wenn man sich die Hand zur Beschattung über die Augen hält.
Wieder in der Aula der ASH, bekamen wir noch einige Infos von Karsten zum Thema Portraitfotografie. Ich war etwas bestürzt, als er meinte, Profis würden meist nur drinnen fotografieren und das Sonnenlicht mache die Linien in Gesichtern stärker, was ein Gesicht härter wirken lasse. Wir hatten fast ausschließlich in der Sonne fotografiert. Aber er meinte später, es sei ja nicht grundsätzlich falsch, es trotzdem zu tun, nur weil Leute, die das professionell machten, sich auf bestimmte Standards geeinigt hätten.
Schade, dass ich nicht dran gedacht habe, auch ein paar Fotos im schatten zu machen bzw. dass dazu keine Zeit mehr war. Aber ich hoffe, dass ich bei einem der nächsten Fotoworkshops noch die Gelegenheit dazu bekommen werde.