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100 Meisterwerke: 64. „Ohne Titel“, Rote Tinte und Bleistift auf Papier, 1998 von Louise Bourgeois

Bleistiftzeichnung mit roter Tinte

Bei dem Werk von Louise Bourgeois, das in der Kunsthalle Bielefeld ausgestellt wird, handelt es sich um ein weißes Blatt Papier, auf dem lediglich mit rotem Stift und einem Bleistift gearbeitet wurde. Im ersten Augenblick wirkt es beinahe wie eine Kinderzeichnung, die an einem Familienkühlschrank hängen könnte. Auf den zweiten Blick erkennt man aber die fein säuberlich gezeichneten Linien und die verschachtelte Dimensionalität der Abbildungen.

Das Format des Blattes ist hochkant und etwa 75 Prozent des gesamten Blattes sind weiß, beziehungsweise leer geblieben. Bei ungenauer Betrachtung sieht es so aus, als strecke sich eine rote Säule, vielleicht auch ein sehr lang gezogener Käfig, vom unteren Bildrand bis über den oberen Bildrand. Das DIN A 4 Blatt reichte der Künstlerin aber offensichtlich nicht aus, da das Motiv am oberen Bildrand wie abgeschnitten aussieht, geradezu unvollständig. Es macht den Eindruck, als hätte Louise Bourgeois sich mit dem Maßstab vertan und es somit einfach nicht beenden können.

Bei genauer Betrachtung erkennt man zunächst ein rot gezeichnetes, sehr kleines Kind, welches gerade stehen kann. Die Konturen des Kindes sind ziemlich hart mit Bleistift heraus gearbeitet worden. Man könnte fast behaupten, dass Bourgeois mit Bleistift zunächst die Konturen des Körpers grob vorgezeichnet hat und diesen vielleicht noch korrigieren wollte, falls die Proportionen nicht gestimmt hätten. Das Kind hat einen sehr runden Kopf, ohne Haar und ohne Gesichtszüge. Lediglich ein roter Punkt deutet das Auge an. Der Oberkörper des Kindes ist nicht ausgemalt, sondern lediglich in rot und weiß konturiert. Wenn man anhand der übrigen Kleidung Rückschlüsse auf das Geschlecht des Kindes ziehen müsste, so wäre es wahrscheinlich ein Mädchen, denn es trägt einen Rock und das Bild macht nicht den Eindruck, als würde es stereotypische Gender Vorurteile infrage stellen wollen. Der Rock ist rot schraffiert worden, in der Diagonalen von links oben, nach rechts unten. Darunter trägt das Mädchen noch eine Art Strumpfhose, zumindest kann man dies erahnen. Die Beine sind vordergründig mit Bleistift ausgemalt worden, aber auch etwas Rot lässt sich darin finden. Die dünnen, feinen Details in rot auf den Beinen erinnern an blutgefüllte Äderchen. Der Übergang von Bein zu Fuß ist fließend, wenngleich die Füße ausschließlich rot gezeichnet sind.

Das Kind ist im Profil abgebildet, somit ist auch nur ein Arm erkennbar. Er ist abgesehen von seinen Umrissen komplett papierweiß und etwas unproportional zum Rest des Körpers. Das Kind klammert sich mit der einen sichtbaren Hand, mit ungefähr drei Fingern, an rote Schnüre, welche von oben herab hängen. Die Beine sind so gezeichnet, als würde das Kind gehen. Das hintere wirkt dünner als das vordere Bein.

Man erkennt, dass es sich bei dem Gegenstand links vom Kind, also die rote Säule in der Bildmitte, um eine Frau handelt. Eine Frau mit zwei Körpern übereinander gezeichnet. Beide Körper bilden zusammen unter sich einen kleinen Schatten, der zwischen zwei Absatzschuhen auf dem Boden scheint. Die Schuhspitzen zeigen nach aussen. Da das Bild aus dieser Perspektive überhaupt keinen Sinn ergibt, bestärkt sich der Eindruck, das es sich um eine Zeichnung von Kinderhand handelt. Die beiden Körper haben die selben Beine, man erkennt nur zwei. Das Kind daneben erstreckt sich bis auf Höhe der Knie. Oberhalb der Knie erscheinen die Körper völlig unterschiedlich. Der eine ist groß und dünn. Der zweite Körper hingegen hat eine Sanduhrenform und ist üppig mit Brust und Gesäß ausgestattet und hat im Vergleich eher dünne Arme, die augenscheinlich hinter dem Rücken verschränkt sind.

Beide Körper wurden frontal gezeichnet und sind im Vergleich zu dem Kind wesentlich kräftiger mit Rot gezeichnet worden. Der üppige Körper trägt auch eine Bluse mit acht erkennbaren Knöpfen in Doppelreihe und einem Kragen. Man sieht keinen Ausschnitt. Der sich dort anschließende Hals ist allerdings überdimensional lang und wurde mit Bleistift gezeichnet, danach aber scheinbar wieder ausradiert. Er wirkt deshalb schmutzig und passt nicht zum Rest der sichtbaren, unbekleideten Körperteile. Am Ende des Halses schließt sich der einzige Kopf an, über den die beiden Frauenfiguren verfügen. Herzförmige geöffnete Lippen sind ins Gesicht gezeichnet und ein roter Querstrich deutet die Nasenspitze an. Der Rest des Gesichts ist nicht mehr auf das Blatt gezeichnet worden und macht das Bild unvollständig. Man kann noch erahnen, dass die große Frau entweder sehr langes Haar hat, bis zum Fußboden genauer gesagt, oder einen Umhang vom Kopf bis zu den Füßen trägt, der über die im Ansatz erkennbaren, schmalen Schultern hinab gleitet. Es wirkt zum einen wie Haare, weil es lange, durchgehende, rote Striche sind, die sich am Ende leicht nach außen Wellen. Wie ein Umhang wirkt es, weil es sich an den üppigen Körper anschmiegt und die Sanduhrenform umschmeichelt.

Das Kind hält sich also an dem Haar oder dem Umhang fest. Die hinter dem Rücken verschränkten Arme der üppigen Dame sind leicht ausradiert worden, als hätte sich Louise dagegen entschieden oder eben auch festgestellt, dass die Proportionen nicht stimmen. Mit viel Phantasie könnte man behaupten, dass es sich hierbei um eine Entwicklung ein und der selben Person handelt. Erst ist sie eine wunderschöne, starke und wohl proportionierte Frau und dann wird sie zu einem Geist und zieht gen Himmel davon, weshalb sich vielleicht auch das Kleinkind an sie klammert.

Bildquelle: restauratoren.de

Text: Max Scheller

 

 

 

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100 Meisterwerke: 63. „Hexensabbat“ von Francisco de Goya

Hexensabbat

Das Gemälde Hexensabbat wurde zwischen 1797 und 1798 angefertigt. Auf den ersten Blick wirkt das Werk von de Goya sehr düster und geheimnisvoll. Das Gemälde ist hauptsächlich in Erdfarben, also Braun, Ocker und dunklen Gelb- und Orangetönen gehalten, sowie viel Grau, Schwarz und Blau. Es ist hochkant aufgestellt und ist fast doppelt so hoch wie breit.  Vom unteren bis zum oberen Bildrand erstreckt sich eine hügelige Landschaft mit anschließendem Horizont. Die Szenerie spielt in der Abenddämmerung, beinahe schon in der Nacht.

Der Bildmittelpunkt sticht einem sofort ins Auge, da hier ein aufrecht sitzender, mannshoher Ziegenbock platziert wurde, der von ca. 13 Personen umgeben ist. Bei den Personen handelt es sich hauptsächlich um Frauen. Der Ziegenbock sieht im ersten Moment beinahe wie ein Baum aus, so wie er da auf seinen Hinterläufen sitzt. Sein braunes, scheckiges Fell und die Schatten an seinem Körper wirken wie ein Baumstamm mit Wurzeln und sein Geweih wie die Baumkrone. In seinem großen, gedrehten Geweih ist auch eine Art Kranz aus Blättern zu erkennen, der sich im die beiden Hörner schlingt. Die Blätter wirken wie Hände bzw. Finger, dennoch ist schwer zu erkennen, um welche Pflanze es sich genau handelt. Es könnten Eichenblätter oder Kastanienblätter sein. Auch Efeu wäre bei der dunkelgrünen Färbung nicht auszuschließen.

Der Blick des Bockes ist starr und die Augen sind von einem satten Gelb. Die Pupillen hingegen sind tiefschwarz und liegen mandelförmig in den gelben Augen. Seine Schnauze ist geschlossen und der Bart hängt lang von seinem schmalen Kiefer herunter. Man kann etwas graues Fell in seinem Bart erkennen, was den Bock älter erscheinen lässt. Die Vorderhufe hat er von sich gestreckt. Es sieht fast danach aus, als würde der Bock etwas sagen wollen, während er seinen linken Huf zu einer Frau hin ausgestreckt hat, wie um ihr die Hand zu reichen.

Die Frau mit den blonden Haaren, der er seinen Huf reicht, steht als einzige aufrecht im Bild und hält in ihren Armen ein Baby mit braunem Haar. Sie hält es fast so, als würde sie es ihm überreichen wollen. Dabei ist ihr Mund geöffnet und sie scheint ihn anzuflehen. Sie wirkt verzweifelt. Unterhalb ihrer Arme erkennt man das Gesicht einer sehr alten Frau. Sie hat viele Falten. Eine weitere alte Frau in einer Art blauen Schürze mit Kopfbedeckung streckt dem Bock ein Kleinkind entgegen. Das Kleinkind trägt braunes Haar und sieht sehr mager aus. Es besteht nur aus fahler Haut und Knochen. Selbst das mimiklose Gesicht wirkt eher wie ein Totenschädel.

Links neben der alten Frau mit Kleinkind liegt eine weitere Frau im Kreis um den Bock. Man sieht nicht ihr Gesicht, sondern nur ihren Hinterkopf samt weißer Bedeckung und ihr gelb-weißes, knielanges Kleid, aus dem ihr linkes Bein hervor lugt. Eine  Leiche liegt neben ihr und anhand der Körpergröße handelt es sich hierbei ebenfalls um ein Kind. Vollkommen regungslos liegt es da und scheint zu verblassen. Die Farbe des Körpers ist nur ein wenig heller, als die des sandigen und harten Bodens dieser kargen Einöde.

Eine weitere Frau, diese jedoch mit dunklem Haar, welches sie zusammenrafft an ihrem Kopf trägt, sitzt direkt zwischen der Leiche und dem Bock. Ihre Schultern sind fast gänzlich entblößt und sie formt mit ihrem Schmollmund Worte, welche sie an den Ziegenbock richtet. Ihr weißes Gewand fließt an ihrem Körper herunter und wird nur durch eine Schnur um die Taille zusammen gehalten. Ihre Augen blicken verzweifelt hinauf zum Bock.

Neben ihr sitzt die letzte Frau im Kreise links vom Bock. Ihr Gesicht ist schon sehr verzerrt. Es ist schwierig auszumachen, wie alt sie ist. Sie ist im Gesicht kaum mehr als Frau zu erkennen, da es aussieht, als würde ihr Fell im Gesicht wachsen. Nasen- und Mundpartie haben sich zunehmend verformt und sie wirkt eher animalisch statt menschlich. Ihr Oberkörper ist komplett entblößt, jedoch ist ihre Brust von der Frau neben ihr verdeckt. Sie trägt einen hellgrünen Rock und eine weiße Schürze und hat einen langen, vermutlich hölzernen Stab an ihr Schlüsselbein gelehnt, welcher noch über ihren Körper hinaus ragt und am oberen Ende angespitzt ist. An diesen Stab sind drei Babykörper gebunden. Allesamt sind aschfahl und hängen völlig ohne Körperspannung vom Stab herab, an ihren Hälsen gehängt. Das Mittlere hat die Arme verschränkt, vermutlich sind sie zusammengebunden. Bei den anderen beiden Kindern hängen die Arme schlaff vom Körper.

Hinter dem Ziegenbock sind noch deutliche Umrisse von vier Frauen zu sehen, aber nur bei einer erkennt man auch noch konkrete Gesichtszüge. Sie scheint leidend zu den Babys am Stab hinauf zu schauen, oder gen Himmel. Ihr Gesicht ist mit tiefen Falten überzogen und sie ist so verblasst gemalt worden, dass sie eher wie ein Geist aussieht. Sie hat ein weißes Tuch auf dem Kopf. Die übrigen Personen, offenbar Frauen, da sie auch alle eine Kopfbedeckung tragen, sind nicht mehr erkennbar, was ihre Mimik und Gestik betrifft. Sie scheinen weiter in den Hintergrund des Bildes, also tiefer in die abgebildete Landschaft, abzudriften. Es wäre beinahe möglich, dass sie zu den Bergen im Hintergrund werden. Sie sind so fahl und strahlen keinerlei Leben aus, dass man davon ausgehen muss, dass auch sie schon tot und zu Geistern geworden sind.

Bildquelle: artgen.billerantik.de

Text: May Scheller

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Platz da: Wir kreieren barrierefreie Kugeln!

Wir laden Euch herzlich ein in die Ausstellung Dreams&Dramas. Law as Literature um “Platz da!“ live zu erleben:

Samstag, 6. Mai 2017, ab 13 Uhr

Ort: NGBK – Neue Gesellschaft für Bildende Kunst Oranienstr. 25, 10999 Berlin-Kreuzberg

Barrierefreie Kugeln kreieren

Farben bestimmen unseren Alltag und unsere Identität. Das wissen auch Anka Benara und Arnold Estefan. Ihr fragiles Kugel-Kunstwerk „Jus soli – Right of Soil“ wird gerade in der Ausstellung „Dreams&Dramas. Law as Literature“ präsentiert. Die Künstler*innen trennten die Fahnen ihres Herkunftslandes Rumänien sowie die Flaggen der Geburtsländer ihrer Eltern auf und formten aus den Fäden bunte Kugeln. Darin vermischen sich nicht nur die Farben der Flaggen, sondern auch Geburtsort- und Herkunftsrecht. Ein spannendes Konzept, dessen Kunstwerk jedoch nicht angefasst werden darf und damit nicht für alle erfahrbar ist. Katrin Dinges, Künstlerin und Kunstvermittlerin, schaut sich mit den Besucher*innen weitere Fahnen an: Was machen deren Farben mit uns? Wie beeinflussen sie unsere Identität? Anschließend entstehen in einem kreativen Teil eigene (Kugel-)Kunstwerke, die alle anfassen dürfen.

Begrenzte Teilnehmer*innenzahl. Anmeldung unter kunstvermittlung@ngbk.de <mailto:kunstvermittlung@ngbk.de>

 

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„Platz Da!“ Frauen mit Behinderungen als Kunstvermittler*Innen

Silja Korn und Katrin Dinges, Zwei unserer blinden Fotograf*Innen nehmen derzeit am Kunstprojekt „Platz Da!“ teil. Katrin schreibt über das Projekt: „Platz da!“ heißt fünf Frauen mit unterschiedlichen Behinderungen machen Kunstvermittlung! Hintergrund ist, dass bei zeitgenössischer Kunstvermittlung meistens weiße, able-bodied Akademiker*Innen die Angebote durchführen und sowohl bei der Vermittlung als auch Darstellung zeitgenössischer Kunst behinderte Menschen meist nicht berücksichtigt werden“.

Katrin und Silja geben jeweils einen Workshop zu einem Kunstwerk, dass leider aufgrund seiner Fragilität nicht ertastet werden kann. Daher werden unsere Bildbeschreiber*Innen es hier beschreiben.

„Jus Soli – The Right of Soil“

Das von Katrin ausgewählte Werk heißt „Jus Soli – The Right of Soil“ und wurde von Anca Benera und Arnold Estefan aus Rumänien initiiert. Sie haben Fahnen aufgetrennt und aus den Fäden Kugeln hergestellt. Dabei sind sowohl die Fahnen ihres Herkunftslandes Rumänien (rot-gelb-blau) als auch die der Herkunftsländer der Eltern mit eingeflossen. In einem Fall stammen diese aus der Ukraine (blau-gelbe Fahne) und Italien (rot-weiß-grüne Fahne), im anderen aus Ungarn (rot-weiß-grüne Fahne, aber mit horizontalen streifen) und Spanien (rot-gelb-rote Fahne). So sind dann die Farbkombinationen für die Kugeln entstanden. Für eine Kugel haben sie einen Monat gebraucht; die Fäden sind einfach nur zusammen gewickelt, es wurde keine Kleber benutzt.

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Das Kunstwerke von der Seite


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 das Kunstwerk in der Vorderansicht auf einem Sockel mit der Aufrschrift „Bitte nicht berühren / Please don’t touch“.


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Das Kunstwerk von oben

The Right of Soil

Drei Farbfotografien im Querformat von einem ausgestellten Kunstwer, das aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen wurde. Auf einem quadratisch grauen Sockel befinden sich zwei mittelgroße Wollknäuel mit mehreren bunten Fäden, die den Umfang von einem Handball haben. Vor allem die Farben blau, rot und gelb sind gut zu erkennen. Das erste Foto zeigt eine seitliche Aufnahme des Sockels mit hintereinander liegenden Wollknäueln. Einige Fäden scheinen sich von den Kugeln gelöst zu haben und liegen auf dem Sockel. Die hintere Kugel liegt leicht nach links versetzt zur vorderen Kugel. Im Hintergrund ist eine weiße Wand mit einem langen schwarzen Brett und zwei Kabeln zu erkennen. Das zweite Foto zeigt die Vorderansicht des Sockels mit einem großen Papier auf der Frontseite, worauf „Bitte nicht berühren / Please don’t touch“ steht. Im Hintergrund befindet sich ein dunkler, durchsichtiger Vorhang, der den Raum vom Durchgang trennt. Am Vorhang spiegeln sich weitere Kunstwerke und eine Silhouette, die sich hinter der Kamera befinden. Links neben dem Vorhang ist eine schwarze Wand mit verschiedenen Zetteln, die an den Durchgang grenzt. Auf dem letzten Foto ist eine Aufsicht auf beide Kugeln zu sehen. Dabei sind die einzelnen Fäden deutlich zu erkennen, die von den Kugeln ausgehen und auf dem Sockel verteilt sind. Im Hintergrund sind der Boden und die Wände zu sehen.

Beschrieben von Isabelle Siegmund

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Das Bild und seine Konstruktionen von Gerald Pirner

Lightpainting als Malerei Erblindeter

Nachbetrachtungen eines Erblindeten zu einem Workshop bei der blinden Fotografin Sonja Soberats (New York) und der sehenden Fotografin Mila Teshaieva (Berlin) im Rahmen der Premiere des Films Shot in the Dark in der Brotfabrik in Berlin

Dass am Anfang das Wort war, wie wir im Johannesevangelium lesen, trifft auf das Bild nicht nur insofern zu, als sowohl seine visuelle Erscheinung als auch sein Aufkommen als inneres Bild  nicht ohne das Wort kommunizierbar wäre, dass es für die Abbildung, Beschreibung und Reproduktion oder für die Darstellung von welchen Gegenständen, Wesen oder Vorkommnissen auch immer grundlegend ist. Verschärft ließe sich sagen, dass das Ineinander von Wort und Bild das entscheidende Moment menschlichen Sehens ist, dass und noch weiter zugespitzt gesagt, ohne Wort menschliches Sehen gar nicht möglich wäre.

Der folgende Essay sucht den Berührungspunkten von visuellen Bildern und inneren Bildern von Erblindeten nachzuspüren, sucht dies zu einem Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit Lightpainting als Ausdrucksweise von Bildern von Erblindeten zu machen, sucht der Konstruktion des Bildes als Grundlegung blinder Bilddarstellungen nachzugehen: das blinde Bild als von Erblindeten produziertes Bild, das in der Beschreibung durch Sehende zu einem Portrait des erblindeten Sehens wird, zur Bildwerdung erblindeter Imagination.

Aber vielleicht sollte man in Analogie zum Johannesevangelium sagen: Am Anfang war die Berührung, und die Berührung wurde Fleisch. In der Erblindung kommen Berühren und Berührtwerden so zueinander, dass kein visuelles Bild sich mehr scheidend zwischen sie schieben kann.

Einzig die Erinnerung an das Bild ist es, die das Bild der Erblindeten mit Eindrücken anderer Sinne verbindet, das Bild, das vom Wort aufgerufen wird wie seine Beglaubigung. Allein durch ihre Körper sehen die Erblindeten, allein in ihrem Fleisch ist die Komplexität ihrer Bilder angelegt, allein ihr Körpergedächtnis lässt es sie wieder erinnern, indem es sie mit anderen Bildern verknüpft, es von anderen Bildern überlagern lässt, es von ihnen aufladen lässt, es unaufgerufen immer wieder auferstehen lässt: Aktiv und Passiv stürzen in diesen bildlosen Momenten in Zeitlupe ineinander und alle Fasern der Bewegung verschweißen miteinander.

So müssen die Erblindeten sich und ihre Wahrnehmung als Auseinandersetzung zwischen Sprache und Körper empfinden, zwischen dem, was die Sprache als existierende Wirklichkeit behauptet und dem, was das Körpergedächtnis der Erblindeten dagegen erinnert, dem begriffsgetragenen Bild in ihrer Empfindung widersprechend, ein Einspruch also gegen das vermeintlich Erfasste und seinem Ausdruck: ein „und doch ist es zu allererst auch immer ganz anders“. Dieser Einspruch des erblindeten Körpers ist nicht aufhebbar, das Nein des Bildes im Körper gegen die nachgezeichneten Bilder der Sprache lässt sich nicht tilgen, genauso wenig sind beide Formen des Ausdrucks in Deckungsgleichheit zu bringen, niemals passen sie auf- oder übereinander. Tiefer als Blinde erfahren sich Erblindete als Zerrissenheit.  Aber vielleicht liegt in diesem Riss zwischen dem inneren Bild der Erblindeten und ihrer sprachlichen Ausdrucksfähigkeit ja gerade ein Potential, eine Spannung, die ästhetisch ihren Ausdruck in noch ganz anderen Bildern und in einer an ihnen orientierten Sprache finden kann, einer Sprache des leibhaft erfahrenen Risses im Bild der Wirklichkeit.

Vermittlerin dieser Verkrüppelung, dieser Versehrtheit, dieses Antagonismus  ist die Berührung und sie ist es in Kommunikation mit dem inneren Bild der Erblindeten, das auch die Haut in der Berührung aufkommen lässt, das Wort und Begriff stützen, dem die Haut zugleich aber in ihrer Berührung sofort auch widerspricht, da das Berührte in der Berührung ohne Bild immer nur Fragment ist.

Nähern wir uns aber einem Medium an, das den Ausdruck, die Darstellung  innerer Bilder von Erblindeten ermöglichen könnte und damit vielleicht auch die Darstellung des inneren Antagonismus der Erblindeten: das sogenannte Lightpainting.

Zunächst ist der Begriff des Lightpainting mehr als nur eine Metapher, es wird berechtigter Weise als „Lichtmalerei“ bezeichnet, als das Erstellen eines Bildes aus Licht ohne weitere stoffliche Farbzugaben. Gemalt wiederum wird nicht mit dem Pinsel oder der Spachtel, gemalt wird mit einem „Produzenten“ von Licht, einer Lichtquelle,  einer Taschenlampe, einem Flashlight, einer Maclight. Daher ist Lightpainting vielleicht gar nicht so weit von der Lichtkunst, etwa eines Dan Flavin, eines James Durrell entfernt, die in Bestrahlungen und Ausstrahlungen mit farbigen Neonröhren Gegenstände, Räume und Architekturen in eine magische Andersartigkeit des Wirklichen verwandeln, die der erblindete Autor nur aus Beschreibungen kennt. Für ihn, den Erblindeten, für den in seinem Tasten sich nichts freilich an der Konsistenz  oder der Materialität des beleuchteten Gegenstandes ändert, für den in der Beschreibung des Gegenstandes sich das imaginierte Bild des Gegenstandes aber geradezu fundamental ändert, trennt sich der Gegenstand von dem, was ihn vermeintlich zusammenhält, seine Haut, seine Oberfläche, das, was ihn bislang bestimmte, von seiner Materialität, die ihm sein Tastsinn fühlen lässt, die ihn die Spuren der Form nachspüren lässt.

Nehmen wir nun die Farbe aus dem Licht, bleibt Helligkeit und Dunkel übrig, bleibt stärkere und geringere Intensität des Lichts übrig, erhält der Gegenstand sich als der ursprüngliche Gegenstand wieder zurück, gewinnt bei der künstlichen Beleuchtung aus der Nähe im intensivierten Spiel von Licht und Schatten eine Betonung seiner Plastizität. Das „aufgetragene“ Licht erscheint, und noch ganz anders als das vermeintlich natürlich beleuchtende Licht, als Berührung, die unter ihrem Berühren den Gegenstand zu seiner plastischen Dreidimensionalität überhaupt erst führt.

Im Lightpainting trennt sich das Licht vom beleuchteten Gegenstand, von der beleuchteten Figur und kommt ihr ganz real in der Beleuchtung erneut entgegen. Allein diese Trennung des Lichtes von Figur und Welt ermöglicht es den Erblindeten, das Licht zurückzugewinnen, es handhabbar zu machen, es für die blinde Erstellung von Bildern zu nutzen.

nahezu dunkle szene aus dem workshop

 

Was aber wird da tatsächlich sichtbar, was bringt die Fotografie der Erblindeten hervor, wenn nicht das Sehen selbst, eine Darstellung des Sehens, eben nicht das Sehen von Dingen oder Welt, sondern das Sehen, dem jedes Objekt entzogen wurde, das sich selbst zum Betrachtungsobjekt wird, das einen Raum gefunden hat, sich beim Sehen zuzusehen. Das aufgemalte Licht öffnet einen Raum zwischen Bild und Abgebildetem, nicht etwas wie eine Figur, eine Person wird wiedererkannt: in diesem Raum spiegelt sich das Erkennen mit sich selbst.

Das in der Langzeitbelichtung erscheinende Licht hat in der Imagination des Erblindeten  etwas von einem Wiedergänger an sich, ist wie ein nach innen verlegter Schatten, der das Wesen der Figur aus sich hinaustreibt, um für immer hinter ihm zu bleiben, sein Horizont zu werden, sein eigentlicher Grund.

Aber zurück zum Lightpainting. Ein verdunkelter Raum sperrt das Licht aus, macht das Licht kontrollierbar lässt alle Bewegungen der jetzt kontrolliert auftretenden Lichtspuren von einer auf Langzeitbelichtung eingestellten Kamera aufzeichnen. Das Licht verliert so alle Naturhaftigkeit, alle Sichtbarkeit der Welt muss hergestellt werden und ist für den Erblindeten aus seinem Gedächtnis heraus erstellbar. Der ganze Akt hat aber auch etwas von einer Skizze, werden doch hauptsächlich Konturen nachgezeichnet, werden mehr oder minder intensiv belichtet oder ausgeleuchtet. Im kontrolliert ausgeleuchteten Raum entsteht ein Raum der Dokumentation der Bewegung des Lichts. Wird das Bild zum Protokoll dieser Bewegung.

Ein weiterer Faktor, der hier auftritt ist die Erinnerung an Bilder, an Gesehenes, das im Kopf der Erblindeten erscheint, dem sie als Szenen einen künstlichen Raum geben, in welchem sie zu realen Bildern werden können. Ein „Theater des Lichts“, so Frank Amann über das Werk von Sonja Soberats.

Ist die Anwesenheit des Wortes die Erinnerung an die Abwesenheit einer Gestalt oder eines Dinges, erfüllt das Bild die Berührung, gibt erfahrener Sinnlichkeit eine Gestalt, die sich von der sogenannten Wirklichkeit löst und selbstständig als eigene Realität weiterexistiert. Das Wort wird so zu einer vielschichtigen Ebene, in der die unterschiedlichsten Wirklichkeiten in und übereinander liegen. Der Versuch dem Wort eine Ausdrucksform der in ihm zusammenkommenden Wirklichkeiten zu geben, die vorsichtig genug ist, diese nebeneinander stehen zu lassen, ist die Poesie als Annäherung an die Vielschichtigkeit der Welt und des Bildes als dessen visueller Ausdruck.

Das Bild des Erblindeten in seinem sichtbaren Ausdruck ist der Riss hinein in die Welt, deren Verletzung sich mit immer mehr Bildern vernarben muss, nicht um die Unversehrtheit sich vorzugaukeln, eher genau andersherum: um all den Wirklichkeiten von Verletzung  einen Halt zu geben, den Schmerz und immer wieder den selben Schmerz ausdifferenziert spürbar zu machen, ihn zu erinnern, den Schmerz zu erinnern.

In der Art, wie die Erblindeten die Flashlights führen bestimmen sie die Intensität der Ausleuchtung, verstärken die Helligkeit in der Wiederholung oder nehmen im schnellen Überstreichen die Stärke: je länger belichtet wird, desto heller die jeweilige Stelle, je kürzer desto dunkler. Das Bild der Erblindeten ist dem Schnappschuss diametral entgegengesetzt, Belichtungszeiten von 10 bis 15 Minuten bringen eben geradezu Gemälde hervor, deren Malmittel nur noch das Licht selbst ist.

Der Kern der blinden Bildproduktion ist aber die Inszenierung, ist das Konzept: die Fotografie der Erblindeten ist eine Art von Konzeptkunst, die von der bildlichen Umsetzung des Konzeptes ausgeht.

Was ist das blinde Bild anderes als eine heilende Haut, die sich über den Schmerz legt, indem es ihm eben im Bild darstellt, indem es hilft, ihn und seine Wunde zu vernarben.

Das Bild des Erblindeten, gesehen von Sehenden wird Erzählung, die es vor seiner Bildwerdung in dieser Gestalt nicht besaß. In der Erzählung der Sehenden, in ihrer Beschreibung verändert sich das Bild der Erblindeten, reichert sich zugleich an, wird zu einer Sprach-Bewegung, die über die Wunde hinwegführt. Erst als Sprachgewordenheit wird das Bild zum Um-Gehen einer Bewegung, die in ihrer Mitte die Wunde behält, von der sie niemals loskommt. Andererseits kann diese Wunde und ihre Narbe zum Kraftwerk werden, um noch über ganz andere Verletzungen hinwegzuführen.

Ist das Bild der Erblindeten das Konzept zur ästhetischen Verarbeitung der Blindheit, könnte, in die andere Richtung gedacht, das Bild ganz allgemein als eine Art Ursublimierung gesehen werden, die sich über all die Verletzungen, all die Ursachen für Verzweiflung legt, die ein „Und-Doch- Weiter“ in Gestalt der Ästhetik, in Gestalt von Kunst hervorbringt. Das Bild musste erschaffen werden, damit der Mensch wegsehen konnte, damit er im Sehen auch erblinden konnte.

Das Lightpainting entfernt den Sehenden die Augen, indem es ihre natürlich sichtbaren Objekte entfernt, das eigentlich Sichtbare zum verschwinden bringt. Aber Lightpainting gibt den Sehenden die Augen auch wieder zurück, indem es ihre Objekte wiedererschafft. Die wiedergewonnene Sicht der Sehenden aber hat sich verändert, sie ist karger geworden, karger der Blick auf die bekannten Dinge und Menschen, darin führt sie aber auch einen neuen Reichtum ein. Wie eine Berührung umgibt das Licht im Lightpainting sein Gesehenes, umhegt es gleichsam für das Auge der Sehenden. Indem das Licht das zu Sehende dem Auge geradezu zärtlich hingibt, entreißt es dieses der Gefräßigkeit des Auges, lässt das zu Sehende in einer Weise nackt erscheinen, die noch hinter die Nacktheit der Körper zurückgeht.

Zugleich aber stellt sich im Lightpainting der Riss der Erblindeten dar, der Bruch zwischen Berührung und Bild, der Riss hinein ins Bild, den die Berührung verursacht. Das blinde Bild entsteht unter Reflektion von Sehenden, bricht sich in der Beschreibung durch sie, ist also vom ersten Moment an in einem dialogischen Verhältnis zwischen Künstler*innen und Betrachter*innen.  Ein Teil der Produktion des Bildes ist vom ersten Moment an offengelegt, überprüft sich in seiner Ausführung. Das Bild der erblindeten Künstler*innen ist ganz offen auch ein Produkt der sehenden Beobachter*innen, folgt darin also einer Ästhetik, die anerkennt, dass nur in den Körpern der Betrachter*innen sich das jeweilige Werk entfaltet, zu sich kommt, indem es von  Betrachter*innen erneut hervorgebracht wird.

Aber was wird da eigentlich hervorgebracht, ist es nicht erneut die Zerbrochenheit  einer Wirklichkeit, die für die Erblindeten wie die Verkrüppelung einer Welt wirken muss.

Von daher wäre das Lightpainting die Darstellung eines Risses, eines Einschnittes hinein in die Welt, genauer, in das Bild der Welt, die Negation der Welt, die Negation des Bildes der Welt, die im Lightpainting der Erblindeten in den verschiedensten Variationen ihre Darstellung findet, durchgespielt wird: im Lightpainting erfahren Erblindete wie Sehende die Infragestellung „des Ganzen“, indem sein Medium, das Bild, in der Berührung infrage gestellt wird.

Während das Auges selbst immer wieder als gefräßig, als einverleibend gesehen wird, nimmt das Bild der Erblindeten im Lightpainting in seiner Konzeption und Produktion eine Beziehung zu Wesen und Dingen, zu Welt überhaupt ein, die es herausführt aus der zerstörerischen Gefräßigkeit, die das Licht zu einem Medium macht, das alles, was es umgibt in seine Berührung einbettet, die es wegführt von der bloßen grellen Überflutung des Ausstrahlens, die es als Berührung die Welt aufbereiten lässt, die es das Dargestellte in gewisser Weise hervorbringen lässt, es modelliert und dabei abschirmt, ja beschützt.

Ja, am Anfang des menschlichen Lebens ist die Berührung. Lightpainting ist eine Berührung durch Licht, die auffordert zum Ursprung der Welterfahrung zurückzugehen, zur Berührung, und dem was sich ihr hingibt. Lightpainting macht die Berührung sichtbar, und stellt Sehen in seinen ursprünglich taktilen Kontext zurück.

Lightpainting ist eine Berührung von Mensch und Welt in Licht, unter der beides verschwindet, um als seine jeweilige Spur unter Licht wiederzukommen.

Sonia Soberats befühlt das Gesicht eines Models

(c) Andi Weiland | http://www.andiweiland.de

Dieser Text erschien zuerst auf Gerald Pirners Blog Text zu Kunst

Fotos: Workshop Lightpainting Berlin 2017 © Andi Weiland; http://www.andiweiland.de

 

 

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100 Meisterwerke: 61. „Child with Toy Hand Grenade in Central Park“ von Diane Arbus

Junge mit Spielzeug Granate

Bei der Fotografie „Child with Toy Hand Grenade in Central Park“ (dt. Kind mit Spielzeug Hand Granate im Central Park“) von 1962 handelt es sich um eine berühmte Aufnahme der amerikanischen Fotografin Diane Arbus. Arbus erlangte für ihre schonungslosen Darstellungen von Außenseitern und der amerikanischen Gesellschaft große Bekanntheit.

Auf der quadratischen 6 x 6 schwarz-weiß- Fotografie ist zentral ein stehender Junge zu sehen, der mit verzerrtem Gesicht und einer Spielzeuggranate in der Hand für die Aufnahme posiert. Seine Füße beginnen am unteren Bildrand und sein Kopf endet im oberen Bilddrittel. Die Szene spielt sich, wie der Titel verrät, im Central Park New York ab. Im Hintergrund sind unscharf Bäume, Wiesen und Spaziergänger zu erkennen. Links hinter dem Jungen ist jeweils der untere Teil zweier nah beieinander wachsender Baumstämme zu sehen. Am rechten Rand im oberen Drittel ist eine spazierende Familie zu sehen, die in Richtung des Jungen geht. Ein Mann schiebt einen offenen Kinderwagen mit Kleinkind. Links neben ihm geht eine Frau mit schwarzem Mantel, die an ihrer rechten Hand ein weiß gekleidetes Mädchen hält. Direkt hinter dem Kopf des posierenden Jungen ist unscharf eine erwachsene Person zu sehen, die etwa sechs Meter hinter ihm steht. Am linken Bildrand in weiter Entfernung steht eine Gruppe von drei Kindern.

Der schlaksige blonde Junge ist mit einer kurzen schwarzen Trägerhose und einem karierten Hemd gekleidet. Sein linker Träger ist ihm von der Schulter gerutscht. Dazu trägt er dicke, bis zu den Knöcheln gezogene Socken und graue Turnschuhe mit weißen Schnürsenkeln.

Das Auffällige an dem ungefähr 5 bis 7-jährigen Kind ist seine gesamte Körpersprache, die den Betrachter in den Bann zieht: Der Junge steht, die Beine etwa hüftbreit auseinander, auf dem Parkweg. Dabei presst er seine langen dünnen Arme seitlich gestreckt an den Körper.  In seiner rechten Hand hält er zur Kamera gerichtet eine Granatenattrappe, während sich die linke Hand krallenartig verkrampft. Die Granate liegt genau in der Mulde seiner Handfläche und wäre vielleicht ohne den Hinweis im Titel nicht auf den ersten Blick als solche erkennbar.

Der Gesichtsausdruck des Jungen ähnelt einer Grimasse, der Mund ist geschlossen und nach unten verzogen  und die Augen wirken weit aufgerissen. Der Kopf ist leicht zu seiner linken Seite geneigt. Eine Mischung aus Angst, Verzweiflung, Wut und Wahnsinn schlägt dem Betrachter entgegen. Das hagere, fast schon skurril wirkende Gesicht und die Körperhaltung rufen eher Unbehagen als Erheiterung hervor, was die Fotografie einzigartig macht. Das Kind hat nichts Kindliches an sich, sondern entfaltet eine verstörende Wirkung. Die sommerliche Parkidylle, die sich im Hintergrund abspielt, steht konträr zu dem abwesend in die Kamera starrenden Kind.

Das Bild wirkt wie eine Anklage auf den Betrachter, die man so schnell nicht mehr vergisst. Es scheint uns daran zu erinnern, dass Krieg in den Köpfen der Menschen beginnt und der ihn auslösende Hass von Generation zu Generation weitergegeben wird. Irgendwann wird dieses auf den ersten Blick harmlos wirkende Kind vielleicht echte Granaten auf seine Gegner werfen und dafür als Patriot, der seine Pflicht tut, anerkannt werden.

Bildquelle: Wikipedia

Text: Magali Derouet

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